Wofür es sich zu leben lohnt
zuvor gewesen zu sein. Das ist die von Pascal erkannte merkwürdige Zeitlichkeit des Glücks: Solange wir streben, meinen wir, das Glück komme erst später, am Ziel; sobald wir hingegen angekommen sind, glauben wir, es sei kurz zuvor dagewesen. [83] Da wir also schon glücklich sind, wenn wir das Glück vor Augen, aber noch nicht ganz erreicht haben, brauchen wir, sobald wir das Glück erreicht haben, rasch wieder ein neues Ideal, das uns reizt und herausfordert und in neue lustvolle Spannung versetzt. Dies hängt allein mit der Notwendigkeit von Idealen für das Glück zusammen, [84] nicht aber, wie die unglücksverliebten Schwerenöter der Philosophie gerne vermuten, mit einer Notwendigkeit des Unglücks für die Glücksempfindung.
Und was die sogenannte Unmöglichkeit direkten Erstrebens des Glücks betrifft, ist daran zu erinnern, dass diese Idee, die der antiken Philosophenschule, der sogenannten pyrrhonischen Skepsis, entstammt, [85] ihren spezifischen Sinn allein aus dem Umstand bezieht, dass dort das Glück als Gelassenheit (Ataraxie) bestimmt wurde. Klarerweise erreicht man die Gelassenheit nicht, indem man sie angestrengt verfolgt. Das wissen alle, die mit Mode und Design zu tun haben und die darum oft zu der Ansicht gelangen, ein gelassenes Verhältnis zu solchen eleganten Dingen sei eleganter als deren umfassender Besitz. So erscheinen zum Beispiel Formen des »cross-dressing«, in denen Einfaches, Alltägliches mit Außergewöhnlichem kombiniert wird, eben oft interessanter und geschmackvoller als eine angestrengte Abfolge eleganter Elemente.
Das bedeutet aber nicht, dass das Glück besonders schwer und nur unter extremen Verstellungen erreichbar wäre, etwa so wie ein seltenes Tier, das nur von einem tagelang unter Tarndecken ausharrenden Geduldigen vielleicht einmal doch fotografiert werden kann. Im Gegenteil: Die entscheidende materialistische Erkenntnis der antiken Philosophen lautet, dass das Glück ohnehin schon da ist, ganz nahe bei uns; und dass wir das nur anzuerkennen brauchen, wohingegen wir uns von ihm entfernen, indem wir zur Jagd nach ihm aufbrechen. [86] So soll, einer pyrrhonischen Anekdote zufolge, der Maler Apelles versucht haben, bei der Darstellung eines Pferdes, die ihm bereits ganz gut gelungen war, auch den Schaum zu malen, den es vor dem Maul hatte. Nach wiederholten gescheiterten Versuchen habe er schließlich resigniert und im Zorn seinen Schwamm, in dem er die Pinsel abwischte, nach dem Bild geworfen. Als er sich beim Fortgehen noch einmal umdrehte, musste er feststellen: der Pferdeschaum war nun da. [87]
Im Moment, als der Maler Apelles von seinen Anstrengungen abließ, konnte er also die Präsenz seines Glücks erkennen bzw. anerkennen; und eben durch dieses Nachlassen erzeugte er sie. Ein solches Nachlassen ist die entscheidende Fähigkeit für den Umgang mit dem Glück; nicht das verkrampfte Umwegemachen, das die Glücksfürchtigen noch umständlicher werden lässt als die schlauesten Paparazzi.
Die gelassene Sicherheit, dass das Glück nicht weit sein kann, setzt allerdings voraus, dass man aufgehört hat, das Glück insgeheim zu fürchten. Solche philosophischen Abwehrmaßnahmen gegen das Glück wie die genannten muss man dann bleiben lassen. Das bedeutet, den Schatz des verhohlenen Glücks im Unglück aufzugeben und sich auf die naheliegende Tatsache einzustimmen, dass das Glück kein Unglück ist – dass man also zum Beispiel auch einem Erfolg oder Sieg ruhig entgegenblicken kann.
Die Fähigkeit, das Glück zu ertragen, ist die wichtigste ethische Voraussetzung für jene emanzipatorischen Anstrengungen, die gegenwärtig, angesichts extremer Umverteilungen, immer notwendiger werden. Ohne diese Fähigkeit geraten auch die Anstrengungen leicht zu bloß affirmativer Kritik und kollaborativer – für karrierebewusste Einzelpersonen allerdings durchaus lukrativer – Klage. So wichtig es ist, dass die Gescheiterten der gegenwärtigen Verhältnisse sich Selbstachtung verschaffen, so notwendig ist es darum, zu vermeiden, dass dies über das Ressentiment, den grundsätzlichen Hass auf das Glück, zu erreichen versucht wird. Die Rehabilitierung der Gescheiterten würde sonst um den Preis des Beuteverzichts erkauft. Sie geriete dann zu einer stillschweigenden Bejahung der Strukturen, die derzeit immer mehr Scheitern und Elend erzeugen.
7 . Über den Neid
Nehmen wir an, wir wagten, den Neid betreffend, eine Anfrage bei dem sagenumwobenen Radio Eriwan – jener
Weitere Kostenlose Bücher