Wofür es sich zu leben lohnt
und Strukturelle hingegen wie Stofflichkeit, physische Präsenz, Erfolg, Repräsentationsformen, gesellschaftliche Institutionen, Machtverhältnisse, Gewalt, Generationenfolgen, Geld, Gesetze, Konventionen, Wissen, Fertigkeiten etc. wird aus narzisstischer Perspektive – wie Bela Grunberger und Pierre Dessuant in ihrer grundlegenden Studie dargelegt haben – als etwas Schmutziges, bloß Äußerliches, zu Überwindendes wahrgenommen (s. Grunberger/Dessuant 2000 ).
Den Einbruch des Narzissmus in die Gegenwartskultur hat als Erster Richard Sennett erkannt und diagnostiziert – in seiner 1974 erschienenen Studie »The Fall of Public Man« (Sennett [ 1974 ]). Er zeigt darin, wie die narzisstische Passion für das Eigene, Authentische, auf die Zerstörung jenes öffentlichen Raumes hinarbeitet, in dem man etwas vom Eigenen, Vertrauten und Privaten Verschiedenes – etwas Feierlicheres, Formelles, für andere Dargestelltes zur Aufführung bringen konnte. Sennetts Kritik, die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens immerhin bereits die Entlarvung fundamentaler Selbsttäuschungen einer damals siegesgewissen Neuen Linken war, zeigt vielleicht erst heute, unter der Vorherrschaft des Neoliberalismus, ihre ganze, entscheidende Tragweite. Denn unter neoliberalen Verhältnissen ist aus dem kulturellen Narzissmus eine entscheidende ideologische Stütze der massiven gesellschaftlichen Umverteilungen geworden.
Da der Narzissmus alles, was dem Ich nahesteht, dem vorzieht, was auf der Seite der Welt zu finden ist, tendiert er zum
Beuteverzicht
. Dabei zeichnet er sich durch eine Reihe von zusammenhängenden philosophischen Präferenzen aus: Er verrät sich daran, dass er gern für das »Immaterielle« schwärmt, das er allem Materiellen vorzieht; er agiert lieber »spontan« als organisiert oder geplant; er ist selbstverständlich für die Freiheit, und nicht für das Glück, Subjekt sein ist für ihn immer besser, als ein Objekt zu sein; das Authentische besser als das Kunstvolle; das Selbstgestaltete besser als das Vorgefundene; das Konstruierte besser als das Gegebene; die Absicht wichtiger als ihre Ausführung.
Da diese philosophischen Irrtümer ein dichtes »Gewebe« bilden, ist die vom Narzissmus geprägte metaphysische Weltauffassung auf vielen Feldern verbreitet. Sie taucht nicht allein in der Schwärmerei von Theoretikern wie Maurizio Lazzarato und Paolo Virno für die »immaterielle Arbeit« oder von Hardt und Negri für die »Spontaneität« der gegen das neoliberale Kapital protestierenden Gruppen auf – ein Diskurs, der in seiner programmatischen Blauäugigkeit jede Diskussion über tatsächliche Produktionsverhältnisse unter neoliberalen Bedingungen sowie über die Fragen wirksamer politischer Organisation und Strategie von vorneherein unterbindet. Ebenso zeigt sich der narzisstische Subjektivismus in der Selbstverständlichkeit, mit der bestimmte Agenten im Kunstbetrieb solche Entwicklungen wie Interaktivität oder Partizipation als unzweifelhafte grundlegende emanzipatorische Errungenschaften feiern. Alles Feste, Werkorientierte, Unveränderliche wird aus narzisstischer Perspektive grundsätzlich verabscheut. Man freut sich nur, solange die Dinge noch verändert und alle Betrachter zu Produzenten werden können. Dabei wird jedoch übersehen, dass jemand die Position des Autors einnehmen muss, um vielleicht auch einmal mehr sagen zu können, als er will oder als ihm bewusst ist; dass es feststehende Texte braucht, um sie auch gegen den Strich lesen zu können, und dass jemand die Position eines kritischen Lesers einnehmen muss, um genau das zu tun.
Auch die beliebte Beschäftigung mit dem eigenen Selbst, wie sie im Gefolge von Michel Foucaults »Ästhetik der Existenz« sowie gewisser Teile der Gender-Theorie auftritt, tendiert zur freiwilligen Selbstbeschränkung sämtlicher Ansprüche allein auf das, was dem Ich nahesteht, und mithin zum Verzicht auf alle etwas entfernteren Anteile der Welt. Der Narzissmus regiert überall dort, wo die Devise »Be yourself!« vorherrscht, die im Hip-Hop widerhallt und die an die Stelle, der früheren, kampfbereiteren Parole »We want the world, and we want it now!« getreten ist.
Selbst auf der Ebene der weniger kämpferischen kulturellen Politiken bleiben Folgen nicht aus. Denn der Narzissmus kümmert sich mit Vorliebe um alle Diskriminierten; er ist sensibel für Benachteiligungen aller Art und an allen Orten der Welt und überbietet sich selbst ständig in der Entdeckung neuer
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