Wofuer es sich zu sterben lohnt
langsam los, schlug die Hände vor sein bluti ges Gesicht und sank zu Boden. Seine Schultern bebten.
Mariam erhob sich vorsichtig. Ihre eine Schulter tat weh, ihre Hüfte, aber alles schien zu funktionieren.
»Ist schon gut, Lieber«, log sie. »Ist schon gut.«
Aber Theo war wie gelähmt. Er hielt noch immer das Messer in der rechten Hand, der linke Arm war ausge streckt, wie um ein Geschenk entgegenzunehmen. Er blu tete überraschend wenig.
Das Einzige, was im Zimmer zu hören war, war Mikaels röchelnder Atem.
Ich muss etwas tun, dachte Mariam. Wie immer bin ich diejenige, die etwas tun muss.
Ich muss etwas finden, womit ich die Wunde verbinden kann. Sie hatten doch sicher Verbandszeug im Haus? Im Badezimmer?
Sie stürzte los und traf auf ein groteskes Spiegelbild. Sie hatte Blut am Mund, am Kinn, und ihre Zähne waren rosa. Sie nahm sich die Zeit, sich zu waschen, ehe sie in die Kü che zurückging und Theos Arm verband.
Sie sprach zu ihm wie zu einem kleinen Kind.
»Das wird alles gut werden. Jetzt fahren wir ins Kranken haus, da können sie alles in Ordnung bringen. Alles wird gut, Theo, Lieber. Mach dir keine Sorgen. Sag Bescheid, wenn es wehtut. Bin gleich so weit. Sehr gut. Jetzt rufe ich ein Taxi.«
Im Krankenhaus nähte ein Kollege Theos Arm. Er schien die Erklärung zu glauben, dass er geschnitzt und dabei mit dem Stuhl gekippelt habe, der Stuhl sei umgekippt, und er sei auf das Messer gefallen. Er schien zu glauben, dass Mariams Zähne klapperten, weil sie sich um Theo Sorgen machte.
Die folgenden zwei Tage verbrachten sie in einem Ho tel. Mariam sorgte dafür, dass Mikael seine wenigen Hab seligkeiten packte und nach Hause fuhr, zurück nach Ad dis Abeba. Sie sprach ebenso mit sich selbst wie mit Theo, wenn sie sagte, es werde jetzt besser werden, und auch Papa werde es besser haben, zu Hause, wo er Freunde und Fa milie hatte.
Theo selbst wollte nicht über das Vorgefallene sprechen. Er aß nicht viel, schien kaum zu schlafen, fügte sich aber all ihren Vorschlägen ohne Widerworte.
Später betrachtete Mariam das alles als schicksalhaften Wendepunkt. Warum hatte sie nicht die Wahrheit gesagt?
Warum hatte sie Theo in dem Glauben gelassen, sie ge rettet zu haben? Die Wahrheit war, dass er eine traurige und unnötige Komplikation verursacht hatte.
Warum hatte sie Theo glauben lassen, dass sie sich vor Mi kael fürchtete, wo die Wahrheit doch die war, dass sie Angst vor sich selbst hatte? Wo die Wahrheit war, dass sie bereit gewesen war, Mikael umzubringen. Nur für einen Moment, aber mehr als ein Moment ist ja auch nicht nötig.
Sie hatte diese Lüge für ungefährlich gehalten. Sie hat te geglaubt, die Lüge sei schonender als die Wahrheit und deshalb besser. Sie hatte geglaubt, die Lüge spiele keine Rolle.
Ohne Mikael wurde der Alltag ruhiger. Niemand wurde laut, niemand ließ Gegenstände fallen, die zerbrachen und daran erinnerten, wie zerbrechlich das meiste im Leben ist. Aber ganz verschwunden war er nicht. Niemand setzte sich in seine durchgesessene Ecke auf dem Sofa, und Ma riam glaubte bisweilen, seine müden Umrisse in irgendei ner vom Licht nicht richtig erfassten Ecke zu ahnen. Sein Auszug schien so plötzlich gekommen zu sein, dass nicht der ganze Mikael hatte folgen können.
Sie hatte den Verdacht, dass auch Theo manchmal Mika el sah, aber sie stellte keine Fragen. Es war besser, das Ge schehene hinter sich zu lassen.
Mit der Zeit würde alles besser werden.
Nach zehn Tagen wurden die Fäden gezogen. Die Wunde war verheilt, aber Theo musterte erschrocken seinen Unter arm, wo die Haut geschwollen war und die rote Narbe noch immer zu bluten schien. Mariam versuchte, ihn damit zu trösten, dass die Narbe mit der Zeit verblassen würde, wie das mit allen unseren Verletzungen geschieht. Sie wusste, dass sie log. Manche Narben wachsen nur, sie bilden am Ende dicke Klumpen aus blankem, stark durchblutetem Gewebe, das sich operativ nicht entfernen lässt.
Daran wollte sie nicht denken. Sie hatte jetzt keine Zeit zum Grübeln.
Sie sammelte Wissen mit der Besessenheit einer einsa men Goldsucherin. Voller Engagement, stur, so lange sie nur konnte und danach noch etwas länger. Sie näherte sich dem Ende ihres Dienstes an einer der bestausgerüsteten Röntgenabteilungen der Welt und musste jede Minute aus nutzen. Wenn ihr ab und zu der Gedanke kam, sie müsste mehr Zeit mit Theo zu Hause verbringen, tröstete sie sich damit, dass sie für ihn arbeitete. Für ihn und alle
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