Wofür stehst Du?
Welt auf dieses Leiden eines Mannes stürzte, für den es doch keinen schlimmeren Gedanken gegeben hatte als genau dies: dass alle Welt von seiner Schwäche wüsste? War es nicht ekelhaft, dass ein Sarg im Stadion aufgebahrt wurde, über dem man dann den Slogan »Mehr Siege – Mehr Tore – Mehr Netto« des Stadion-Sponsors lesen durfte? War das nicht nur ein weiteres Beispiel für die unbeschränkte Gier unserer Gesellschaft nach Emotionen und Abwechslungen aller Art, für ihr Schwanken zwischen Gleichgültigkeit und maßlosem Interesse? Wurde nicht noch der Freitod eines zutiefst unglücklichen Mannes in ein geiles Gefühl für alle umgearbeitet?
Mag sein, dass daran etwas Wahres ist. Aber es trifft nicht den Kern der Sache, nicht in diesem Fall.
Denn der Trauermarsch von 35 000Menschen durch Hannover nach dem Bekanntwerden von Enkes Tod war von niemandem herbeigeschrieben oder inszeniert worden. Die Medien kamen erst später, sie hängten sich an, beuteten das aus.
Bestürzung und Trauer der Menschen waren echt, ganz und gar.
Wenn es wahr ist, dass in Deutschland vier Millionen Menschen an Depressionen leiden, wenn es (bei hoher Dunkelziffer) 10 000 Suizide pro Jahr gibt, die zum größten Teil auf Depressionen zurückgehen, und wenn ich allein in meinem Bekannten- und Freundeskreis etliche Fälle von Menschen kenne, die teils offen von ihrer Erkrankung reden, teils versteckt hinter den Mauern anderer physischer Erkrankungen mit ihren Depressionen kämpfen, dann muss in unserer Gesellschaft ein schwarzer Vulkan brodeln, ein träges, zähes Magma der Verzweiflung, das hier zum ersten Mal an die Oberfläche trat.
Nein, die Trauer um Robert Enkes Tod war nicht in erster Linie ein Medienereignis. Sie war nicht einmal nur Trauer. Sie war so etwas wie ein emotionaler Volksaufstand, eine Erhebung von Menschen, die eine Gesellschaft satthatten, in der viele (und eben auch Robert Enke, den die Leute, so wie sie ihn zu kennen glaubten, einfach gut fanden) mit Angst, Schwäche, Furcht vor dem Versagen allein sind hinter Fassaden.
Bemerkenswert ist es schon, dass die am meisten verbreitete psychische Krankheit unserer Zeit von dieser Art ist. Sie treibt Menschen so sehr in sich selbst zurück, dass sie am Schluss ganz um sich kreisen, unzugänglich für jede Wahrnehmung der Realität,Planetensysteme ihrer eigenen Ängste, und so abgeschottet von der Außenwelt, dass ihnen der Gedanke nicht mehr möglich ist, welche Folgen ihre Selbsttötung für andere hat.
Mir fällt eine Rede ein, die der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace 2005 vor Absolventen des Kenyon College in Ohio gehalten hat. Wallace zählte und zählt zu den Großen der amerikanischen Literatur. Er erhängte sich im September 2008, also drei Jahre nach dieser Rede, in seiner Garage, 46 Jahre alt, nach Jahrzehnten des Kampfes mit Depressionen.
Diese Rede begann mit einer kleinen Geschichte: »Schwimmen zwei junge Fische daher und treffen auf einen älteren Fisch, der in die andere Richtung schwimmt, ihnen zunickt und jovial fragt: ›Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?‹ Und die beiden jungen Fische schwimmen noch ein bisschen, bis der eine schließlich zum andern ’rübersieht und sagt: ›Was zur Hölle ist Wasser?‹«
Was dann folgte, war ein Plädoyer, wie ich es eindrücklicher noch nie irgendwo gelesen habe, weit entfernt von irgendwelchen moralischen Forderungen oder Ratschlägen: für eine Gesellschaft, deren Individuen sich frei machen von allem Unbewussten, das unsere Tage, unsere Zeit, unser Empfinden bestimmt, für ein Leben in Bewusstheit, in dem jeder um seiner selbst willen entscheidet, was ihm wichtig ist und was nicht.
Denn: Was ist Wasser?
Wasser, sagte Wallace, das sind die Standardeinstellungen, default settings, unseres Lebens und unseres Empfindens. Das ist der Glaube: Ich bin die Mitte der Welt. Alles Geschehen dreht sich um mich und meine Ziele.
Wenn ich müde und abgespannt von der Arbeit nach Hause fahren will, sind mir die anderen im Weg (kein Gedanke daran, auch die anderen könnten müde und abgespannt sein).
Wenn ich dann noch im Supermarkt einkaufen will, nerven mich die nach ihrem Geld kramenden alten Leute, die herumtollenden Kinder, die vor dem Milchregal grübelnden Frauen, die mir alle den Weg versperren (kein Gedanke daran, dass die Alten eben alt sind, die Kinder eben Kinder und die Grüblerinnen jedes Recht auf Grübeln haben).
Wenn ich an der Kasse bezahlen will, kotzt mich das Gesicht der sich
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