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Wofür stehst Du?

Wofür stehst Du?

Titel: Wofür stehst Du? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giovanni di Lorenzo Axel Hacke
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Deutscher, und er hatte wohl sein Leben lang mit diesem Land gehadert. Sie wusste nicht, wohin sie gehörte. Erzählte mir von Plänen, für eine Zeit nach Italien zu ziehen.
    Ich hatte damals einen neuen Arbeitgeber. Lange wohnte ich im Hotel. Dann endlich hatte ich eine Wohnung gefunden, zog um und spürte plötzlich dieses Gefühl von Heimatlosigkeit, das ich gut kenne. Sie kannte es auch.
    Ich fürchtete mich vor der ersten Nacht in den ungewohnten Räumen. Anna wusste das – und half mir. Wir parkten in einem etwas baufälligen Hof, stapften durch dunkle Straßen, stiegen fünf Stockwerke hinauf in dieWohnung, sahen aus dem Fenster. Berlin lag uns zu Füßen, in der Ferne funkelten die Hochhäuser am Potsdamer Platz. Ein Bild wie aus einem Film. Aber mir war kalt dabei.
    Anna sagte: »Die Wohnungen werden dir vertraut, wenn du sie mit deinen eigenen Geschichten füllen kannst. Dann gehören sie dir.«
    Wir tranken ein Glas Rotwein, dann ging sie, schloss leise die Tür, und das war meine erste Geschichte mit dieser Wohnung.
    Kurz darauf bekam ich eine SMS von ihr, sie schrieb, dass sie schon Tage im Krankenhaus liege, wegen einer Muschelvergiftung. Ich besuchte sie noch am selben Abend, das düstere Krankenhaus in Mitte lag nur einen Steinwurf von ihrer Wohnung entfernt. Anna sah aus wie immer, überhaupt nicht bleich, was die Situation erst recht unheimlich machte. Sie erzählte mir von diesem Lokal, in dem sie sich vergiftet habe, die Geschichte erschien mir merkwürdig, aber ich fragte nicht genauer nach.
    Es kann kein Zufall gewesen sein, dass wir uns danach aus den Augen verloren. Auch scheint es mir im Nachhinein unmöglich zu sein, dass ich nie auf den Gedanken kam, Anna könnte depressiv sein. Ich, der in der Familie zwei Psychoanalytikerinnen und eine Psychotherapeutin hatte und der als Kind den Grad der Bedrückung meines Vaters schon an der klassischen Musik zu erkennen glaubte, die er am Sonntagmorgen auflegte; bei Chopin wusste ich, es wird ein besonders schwermütiger Tag.
    Von meiner Seite war es gar nicht mal einebewusste Entscheidung, sondern mehr ein Ausweichen – jetzt bloß nicht noch mit einem Menschen belasten, der Probleme hat.
    Erst nach Jahren begegnete ich Anna wieder. Sie erzählte, was in der zurückliegenden Zeit passiert war: Sie wollte eines Tages eine Auslandsreise antreten, saß schon mit gepacktem Koffer im Taxi, als sie plötzlich ihre eigene Stimme hörte.
    Sie sagte nicht: »Zum Flughafen bitte.«
    Sie sagte: »Bitte bringen Sie mich in eine psychiatrische Klinik.«
    Dort suchte sie mit schwersten Depressionen monatelang Zuflucht, denn es war für sie nicht mehr auszuhalten gewesen. Jahrelang hatte sie hinter einer Maske gelebt, konnte keine Schwäche zugeben, sich auch selbst keine Schwäche eingestehen. Manchmal benötigte sie morgens eine halbe Stunde, um überhaupt aufstehen und in die Dusche gehen zu können. Im Büro schützte sie bisweilen »Außentermine« vor, um sich daheim ins Bett unter die Decke zu verkriechen. Zuletzt lebte sie wie auf einer ständigen Flucht, konnte kaum mehr schlafen, befürchtete ständig, die Maske könnte fallen.
    Erst in der Klinik war ihr bewusst geworden, dass sie an einer Krankheit litt, der Aufenthalt war ihre Rettung. Und ausgerechnet dort erlebte sie etwas schier Unglaubliches: die Liebe zu einem anderen Patienten. Sie heirateten auf einer griechischen Insel und zogen nach Brandenburg, aufs Land. Hier lebten sie nun mit zwei Gänsen und zwei entzückenden Hunden, die, darauf wiesen sie den Gast vergnügt hin, leider etwasverhaltensgestört seien. Mit ihrer Krankheit hatten sie zu leben gelernt, sie fühlten sich gut.
    Anna war sehr offen und erzählte mir in diesem Gespräch auch, dass sie lange Zeit sehr gehofft habe, dass wir beide irgendwie zusammenkämen.
    Wieder verstrichen einige Jahre. In der Woche nach dem Freitod von Robert Enke planten wir in der ZEIT ein Dossier über Depressionen. Ich vermittelte einer Reporterin den Kontakt zu Anna, und sie schrieb ihre Geschichte auf: die Geschichte einer jungen Frau, die lange an Depressionen gelitten hatte. Name, Beruf und genauere Lebensumstände wurden darin verfremdet (sie sind es auch hier).
    Und so erfuhr ich etwas von Anna, das sie mir nicht anvertraut hatte.
    Sie erzählte die Geschichte, wie sie damals in ein Taxi stieg und in eine psychiatrische Klinik gefahren zu werden wünschte. Doch was sie mir nicht erzählt hatte und nun hier offenbarte: Sie wollte damals

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