Wohin mit mir
der Pflanzen, macht ihre Existenz vollkommen. Der Sohn im weißen Hemd, hinter ihm eine grüne Wand mit üppigem Oleander voller zartrosa und tiefroter Blüten. Dieser Hintergrund – unwirklich, wie auf einem alten kostbaren Gemälde.
Später ein Gang durch San Gimignano. Mittelalterliche Gebäude, auch die alte Stadtmauer ist erhalten. Die Steine der Häuser, der Mauern; ihre lautlose Sprache. Enge Gassen. Es ist still in ihnen. Vor den Haustüren sitzen schwarzgekleidete alte Frauen, jede für
sich vor ihrem Haus, nickend erwidern sie unseren Gruß. Sie sitzen auf ihren Stühlen. Sie schweigen. Sie warten. Worauf? Auf den Tod.
Auf der Piazza Cisterna aus Backsteinen ein Muster. La Collegiata, der romanische Dom aus dem 12. Jahrhundert, wie wir an der Pforte lesen. Sie ist geschlossen. Der den Dom noch überragende mittelalterliche Turm daneben. Plötzlich ein Knarren, die Dompforte öffnet sich. Im langen schwarzen Habit kommt ein Pfarrer oder Küster, unterm Arm eine große Plasteflasche – gewiß für das Weihwasser –, schnellen Schrittes die flachen Stufen herab. Am Brunnen füllt er die Flasche, eilt dann mit wehendem Gewand die Stufen hinauf. Die Tür schließt sich hinter ihm, wieder das knarrende Geräusch.
Die Nacht in einem winzigen Zimmer zu ebener Erde, ab und an Hundegebell und vereinzelt Schritte von Vorübergehenden.
9. Juli
Unser Siena-Tag. Der Sohn war schon hier. Nach Mauerfall und Beendigung seines Wehrdienstes in der Nationalen Volksarmee – beide Ereignisse fielen annähernd zusammen – war er umgehend nach Italien aufgebrochen. Er führt mich. Porta Camollia, San Domenico, der Dom, der Campanile. Von oben blicken wir auf die Piazza del Campo, von hier kann man ihre Muschelform und die neunteilige Gliederung gut erkennen. Die Sinfonie der Farben. Italienisches Ocker, ein gelbes bis rotbraunes Pigment, benannt nach der Erde rund um die Stadt: Terra di Siena, Erde von Siena. Siena ist
neben anderen Erdfarben das früheste Pigment, das Menschen nutzten. Bereits in steinzeitlichen Höhlenmalereien läßt es sich nachweisen.
Dann sind wir unten auf der Piazza del Campo. Laufen im Strom der Touristen. Der Palazzo Pubblico, der Mangia-Turm; farbsatte Rotgelbtöne, ein Gelbbraun, das zu Ocker wird, Umbra, ein grünliches Braun. Siena, eine Stadt, die niemals bombardiert wurde, eine unzerstörte alte Stadt, ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch. Wo hat die Gegenwart hier Raum? An der Piazza del Campo ein Restaurant am anderen, überall Touristen; auch wir sind Gaffer, sind Zuschauer, ohne Spieler zu sein.
Vor Jahren übernachtete der Sohn am Stadtrand im Zelt. Jetzt suchen wir uns das schönste Hotel. Palazzo Ravizza, hohe Zimmer, alte Möbel, im Garten plätschernde Brunnen, ein Blumenflor. Am Abend sitzen wir auf der Terrasse – der Blick in die weite Ebene der Toskana. Die südlichen Farben, die üppige mediterrane Fülle. Der blaue Himmel. Die weißen Gebäude mit den roten Ziegeldächern, in der Nähe, der Ferne, verteilt über die Ebene, meist von hohen Pinien umgeben. Die Anwesen, die Wege, die Haine mit Ölbäumen, die Weinhänge, überall ist die Hand des Menschen zu sehen.
Vor mir tauchen, fast schmerzhaft sehnsüchtig, die Berge des hohen Nordens auf. Ihr verhaltenes vieltöniges Grau. Von einem Weißgrau bis zum Schneeweiß auf Gipfeln und an Nordhängen der Berge bis zum dunklen Grau des nackten Gesteins in Gebirgstälern und den fast schwärzlichen Adern, die auf den schon brü
chigen Eisdecken der Seen von der untergründigen Bewegung des Schmelzwassers künden. Die Leere dieser Landschaft, ihre Urgewalt. Der Sohn hat es ähnlich erlebt. Wir sprechen darüber, ohne es in Worte fassen zu können. Eine Zuneigung wie zu etwas Verlorenem, das wir nach langem Suchen wiedergefunden haben. Nie waren wir so bei uns wie dort. Rilkes Verszeile von der schlaflose Landschaft , die uns zum Vollsein verhilft. Die nordische Landschaft als Spiegel, in dem man sich erkennt. Die Nähe zur Schöpfung. Inbild der Ruhe.
Vielleicht gibt es hier im Süden zu viel Schönheit, zu viel Überfluß … Die elastische Luft ; der Abend ist lau, aber nicht zu heiß. Als die Dämmerung sich über die Ebene der Toskana senkt, schlendern wir nochmals zur Piazza del Campo. Sie ist voller Menschen. Die im Freien stehenden Tische der Restaurants sind alle besetzt. Lichter flackern auf ihnen. Wir laufen über den Platz. Leises Gemurmel. Junge Leute liegen auf der Erde, ihre Rucksäcke neben sich oder sie
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