Wohin mit mir
Projekt »Wassertheater«; es hat viel mit unserem nordischen
Buch zu tun, ich will die Aufführung nicht versäumen. Und im Roten Salon der Volksbühne spielt er sein Solostück »No time to loose«. Damit seine Frau eine der Vorstellungen sehen kann, erkläre ich mich bereit, bei dem Kind zu wachen.
Die erste Nacht allein mit dem kleinen Menschlein. Ich bin aufgeregt. Lausche auf sein Atmen, sein Schniefen und Glucksen wie auf eine Musik von Luigi Nono oder Johann Sebastian Bach. Bis drei Uhr schläft er durch. Dann gebe ich ihm die Flasche, er sieht mich unverwandt ernst an, sein Blick: wer bist du bloß. Die Wärme des kleinen Körpers, ich ziehe ihm ein Jäckchen an, halte ihn hoch, klopfe den Rücken. Später lege ich ihn wieder hin. Er schläft sofort ein. Und ich lausche von neuem der Musik.
Nach dieser wundersamen Nacht wieder Baulärm, Durchsicht von Fahnen, Einkauf in Baumärkten. Und dann die erste Durchlaufprobe des »Wassertheaters«. Ich fahre zum Lehrter Stadtbahnhof. Die am Humboldthafen aufgebaute Bühne. Das vom Projektleiter zusammengestellte Team, auch sein Bruder ist darunter. Alle Nächte wird durchgearbeitet.
Und dann kommt der Tag der Premiere, der 1. Juli. Alles läuft gut. Großer Applaus. Um vier Uhr am Morgen bin ich zu Haus. Gegen halb sieben laufen die ersten Bauarbeiter auf dem Gerüst entlang. Nun rückt die Abfahrt in unmittelbare Nähe. Der 6. Juli ist vereinbart. Mit dem jüngeren Sohn – am Tag der Premiere hat er seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert – werde ich die Alpen überqueren. Koffer packen, die Wohnungsschlüssel der Freundin geben. Sie wird in der Zeit
meiner Abwesenheit den alten Teppichboden entfernen und Parkett legen lassen. Welch Luxus! Wenn ich zurückkehre, versichert sie mir, werde ich die Wohnung nicht wiedererkennen.
Der Humboldthafen. Der Abbau des »Wassertheaters« ist in vollem Gang. Es ist drückend heiß. Die jungen Männer, ihre Hemden sind durchtränkt von Schweiß. Abschied vom älteren Sohn. Der andere winkt: bis morgen. Der Kinderwagen steht im Schatten. Nackte Füßchen. Keine Windel. Nur ein bis zum Bäuchlein reichendes leichtes Hemdchen. Ich nehme das Kindeskind aus dem Wagen, wieder dieses ernste: wer bist du bloß. Dann aber, mit einer langen, fast theatralischen Verzögerung, lacht das Kind, dem seine Eltern den Namen Noah gegeben haben, mich an. Zum ersten Mal. Abschied von ihm. Für ein halbes Jahr. Undenkbar, diese lange Zeit.
Die Nacht vor der Abreise. Noch immer diese drückende Schwüle. Die Turmuhr des Roten Rathauses schlägt die viertel, die halbe, die volle Stunde. Die nächste viertel, halbe, volle Stunde. Die Hitze. Reisefieber. Dann ein Donnergrollen, das näher kommt, schließlich ein heftiger Wind, der an den Pappeln im Innenhof reißt, und endlich – erlösend – ein starker langanhaltender Regenguß. Am Morgen ist der Himmel bedeckt, es hat sich merklich abgekühlt. Gutes Fahrwetter.
Das Abenteuer Süden kann beginnen. Wenn ich mich jetzt, mehr als zehn Jahre später daran entsinne, ist mir, als ob das Durchlebte erst in der Erinnerung Realität gewänne. Damals war ich abwesend in der Anwesenheit. Der Zwiespalt von Körper und Seele, von Sü
den und Norden. Der wahre Aufenthalt in Rom ein nachträglicher, den die Erzählerin sich schreibend erschafft? Der Versuch, das Gewesene Tag für Tag zurückzuholen. Beginnend mit dem Tag der Abreise.
6. Juli
Es ist ein Dienstag. Pünktlich ist Tobias da. Sein roter Passat, den er vor einem halben Jahr gegen sein erstes, nach dem Mauerfall erstandenes Auto, einen Trabant, getauscht hat. Der Passat hat bereits hunderttausend Kilometer hinter sich.
Bis Schleiz ist uns alles vertraut. Die Autobahn in Richtung München. Ich bin sie noch nie gefahren. Auch der Sohn nicht. Spannung, wann werden die Alpen auftauchen. Der Himmel ist voller schnell ziehender Wolken, die sich mitunter düster türmen. Wir müssen lange warten. Dann aber reißen unvermittelt, nur für kurze Zeit, die Wolkenwände auf, und die Alpenkette liegt breit und behäbig wie ein urzeitliches Tier vor uns, seine Rückenzacken die Berge.
Ich erinnere mich, wie mein Verleger erstaunt die Augenbrauen hob, als ich sagte, ich sei noch nie in den Alpen gewesen, geschweige denn, daß ich sie überquert hätte. Er wollte es nicht glauben. Und ich erzählte ihm von den Bergen der Hohen Tatra und der Malá Fatra, in die man in DDR -Zeiten gefahren sei. Er schwieg, als fiele das nicht ins Gewicht. Diese Reaktion
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