Wolf Shadow Bd. 4 - Finstere Begierde
manchmal, gewollt oder ungewollt, griff sie in die Gedanken anderer ein und veränderte sie. Im wahrsten Sinn des Wortes.
Nachdem sie ihr ganzes Leben lang diese besondere Begabung nicht hatte zur Kenntnis nehmen wollen, musste sie jetzt lernen, sie zu beherrschen. Und zwar schnell. Bevor sie von ihr beherrscht wurde.
Sie spürte das Schnurren, bevor sie es hörte – ein leichtes Grollen in ihrem Kopf. Einen Moment später erhob sich einige Meter vor ihnen ein dunkler Hügel und formte sich zu einer zwei Meter fünfzig langen Katze. Sie streckte sich. Kai lächelte. „Dells Freude ist auf jeden Fall ungetrübt.“
„Begreift sie, dass wir jetzt aufbrechen?“
„Oh ja.“ Das Band zwischen ihnen war noch ganz neu, und manchmal irritierte sie die Nähe, die es zwischen ihnen geschaffen hatte. Und dann war es oft schwer, diesem Wesen, das so anders war als sie selbst, ihr Gedankengut zu vermitteln. Aber Kai wusste, dass Dell verstanden hatte, dass ihr lang andauernder Hunger nun bald gestillt werden würde.
Und wenn Dells Hunger gestillt war, dann auch Kais.
Sie hatten den Treffpunkt erreicht. Kai legte eine der Schlafsackrollen auf den Boden, um die Raubkatze, die sich an ihr Bein schmiegte, hinter dem Ohr zu kraulen. Dell hatte gelernt, dass ihr Mensch sehr leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen war, deswegen zeigte sie ihre Zuneigung nur mit Vorsicht. „Sie kann es kaum erwarten.“
Dort, wo sie nun hingingen, würde es Dell sehr viel besser gehen. Dieser Gedanke machte Kai froh; er gab ihr Mut. Wenn die Magie hier schon zu schwach für Nathan war, dann war sie für die Chamäleon-Katze lebensgefährlich niedrig. Das war auch der Grund, warum Kai so müde geworden war. Der Austausch, das Band, zwischen ihr und Dell bestand in beide Richtungen, und die Energie, die die Königin Dell großzügig geschenkt hatte, um sie am Leben zu erhalten, während sie sich für die Reise bereit machten, war nun aufgebraucht.
„Nimm jetzt lieber wieder den Schlafsack. Es ist Zeit, Kai.“
„Was?“ Aber sie bückte sich dennoch danach. „Ich sehe nichts … ist sie da?“
„Sie muss nicht hier sein. Es ist kein echtes Tor. Das habe ich dir doch erklärt.“
Das hatte er, was aber nicht hieß, dass sie es auch verstanden hatte. Auf irgendeine Weise war es Nathans Königin möglich, jederzeit mit ihm in Verbindung zu treten. Auch wenn sie nicht in seiner jeweiligen Welt war, konnte sie doch seine natürliche Fähigkeit verstärken, zwischen den Welten hin und her zu wechseln, damit er etwas mitnehmen konnte, das ihm gehörte – Kleidung, Ausrüstung und Kai. Die wiederum Dell mitnehmen würde.
„Konzentriere dich auf dein Band mit Dell.“ Seine Stimme war leise. Er starrte in die Ferne, doch sie konnte nicht erkennen, was er dort sah.
Sie holte tief Luft und konzentrierte sich, um sich in den Zustand der Fugue zu versetzen – einen Zustand, den sie immer zu vermeiden versucht hatte. Zuerst wollte es ihr nicht gelingen, doch dann konzentrierte sie sich ausschließlich auf Dell, auf die klaren, einfachen Farben der Gedanken ihres Familiars.
Nach und nach wurde ihr Atem ruhiger, und ihr Geist glitt an einen Ort, zu dem die Farben und Formen der Gedanken sie zogen mit ihren endlosen, faszinierenden Bewegungen … ein Ort, an den sie sich verlieren konnte. An den sie sich als Kind verloren hatte. Ein Ort, an dem ihre Gedanken die der anderen berührten, sie ändern konnten. An dem der Drang, genau dies zu tun, überwältigend sein konnte.
Aber Dells Gedanken waren so klar und echt, dass sie dieses Bedürfnis bei ihr nicht verspürte. Kais Herzschlag beruhigte sich, und sie fand das Band, das zwischen ihnen bestand, einen glatten, blassen Schlauch mit einem Hauch von Gelb. Sie lächelte, damit die Farbe kräftiger wurde. Strahlender.
Sie spürte Nathans Hand auf ihrer Schulter. „Jetzt“, sagte er, und seine Stimme war das Einzige, das sie außer den Farben wahrnahm, „gehen wir.“
Also tat sie es, ihm vertrauend und lächelnd, weil die Farben so wunderschön waren, so kunstvoll ineinander verschlungen. Die Formen flossen in neue Muster, dann in wieder andere, elegant und verlockend, faszinierend …
Ein scharfer Schmerz auf ihrer Wange ließ sie erschrocken nach Luft schnappen – und brachte sie noch ganz verwirrt in die Welt der Sinne zurück. In eine Welt, die anders war als die, in der sie noch vor wenigen Augenblicken gewesen war. Hier wirbelte Schnee durch die Nachtluft, die feucht und kalt auf ihrer
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