Wolf Shadow Bd. 6 - Blutmagie
Großmutter?“
„Ich nehme es an. Ich frage es mich nicht. Ich weiß es. Du bist unsicher mir gegenüber.“
Lily öffnete den Mund, um es abzustreiten – und schloss ihn dann wieder. Denn plötzlich und erklärlicherweise fühlte sie Unsicherheit, oder etwas, das diesem Gefühl nahekam.
Die Großmutter tätschelte ihr die Hand und sagte leise: „Du hast gerade erst deinen Namen erfahren. Du verstehst es nicht, aber du weißt es. Ich bin die Einzige, die du danach fragen könntest, aber du weißt nicht, was du fragen sollst.“
Lily nickte wortlos.
Der Kellner stellte eine kleine chinesische Kanne auf den Tisch. Madame Yu betrachtete sie prüfend und roch an dem Dampf. „Sie haben ihn richtig zubereitet, glaube ich. Lose Teeblätter, keine Beutel? Ja. Danke. Ich lasse ihn ziehen.“
Sie legte die gefalteten Hände auf den Tisch, während der leicht verwirrte Kellner wieder ging. „Ich werde dir das Geheimnis der wahren Namen verraten. Wir erfahren sie, wenn wir das Geheimnis des Todes verstehen – das natürlich das Geheimnis des Lebens ist. Was überhaupt kein Geheimnis ist.“
„Aber ich … Ich verstehe den Tod nicht. Ich erinnere mich nur, wie es geschah. Ich verstehe es nicht.“
„Du meinst, du weißt nicht, was nach dem Tod kommt. Ich ebenso wenig. Das ist nicht wichtig. Ein Baby, das nach der Brust seiner Mutter greift, weiß nicht, was es erwartet, wenn es kein Baby mehr ist. Es sieht es überall um sich herum, aber es versteht es erst, wenn es selbst kein Baby mehr ist.“
„Du meinst, der Tod ist ein Übergang.“
„Was für ein dummes Wort: Übergang. Wenn wir davon sprechen, sind alle Wörter dumm, deswegen tun wir es meist nicht, oder wir überlassen das Sprechen den Dummen. Die Buddhisten gefallen mir, weil sie keine Angst haben, dumm zu sein. Sie sprechen von der Illusion der Dualität, weil es kein Entweder-oder gibt. Diese Worte kommen dem, was du und ich erfahren haben, so nah wie alle anderen auch.“
Lily schüttelte den Kopf. „Das sind nicht meine Worte. Sie … sie drücken das, was ich erfahren habe, nicht aus.“
„Lily. Du weißt jetzt, dass du niemals nicht sein kannst, da du schon einmal gewesen bist. Genauso wie ich, weil ich einmal eine Drachin war, nie mehr keine Drachin sein kann. Und als ich noch ganz eine solche war, war ich auch ein Mensch, denn das konnte ich nicht mehr rückgängig machen. Leben heißt nicht, das Leben rückgängig machen. Und auch nicht den Tod. Leben und Tod, das bedeutet nicht entweder-oder.“
Vor einer Woche wären diese Worte noch Kauderwelsch in ihren Ohren gewesen, doch jetzt ergaben sie auf einmal einen Sinn. „Du meinst, es ist alles real. Es ist alles wahr. Cullen sagte, ein wahrer Name bezeichnet den Teil von uns, der sich nicht verändert, aber er irrt sich. Größtenteils wenigstens, denn es verändert sich alles, und es ist alles wahr.“
„Ja. Aber jetzt hör auf, das, was du weißt, in Worte zu zerstückeln. Die einzelnen Stücke, die dabei entstehen, ergeben keinen Sinn.“ Sie nahm sich einen Moment Zeit, um den Tee einzugießen. Sie atmete seinen Duft tief ein und runzelte leicht die Stirn, trank ihn aber dann. „Sandra lernt, aber ganz beherrscht sie die Kunst noch nicht.“
Lily musste plötzlich grinsen, als sie an die Limousine dachte. Schwarz war sie gewesen, nicht weiß, weil ihre Großmutter keine weißen mochte. „Und da wir einmal ein Kind waren, können wir nicht mehr kein Kind sein.“
Die Augen ihrer Großmutter glitzerten. „Ich weiß nicht, worauf du anspielst.“ Sie nahm einen Schluck Tee, schüttelte den Kopf und setzte die Tasse ab.
Belustigt und voller Zuneigung sprach Lily sanfter weiter, als sie eigentlich beabsichtigt hatte, zögerlicher. „Ich habe ein paar Fragen zu Dingen, die man in Worte zerstückeln kann.“
Die Großmutter schnaubte. „Du willst mehr über mich und Sam wissen. Nun gut. Du darfst deine Fragen stellen. Es ist gut für Kinder, wenn sie ihre Vorfahren kennenlernen.“
Und das war der Kern, nicht wahr? „Die meisten Menschen haben keine Vorfahren mehr, die sie befragen können! Ich meine …“ Lily machte eine vage Geste. „Über dreihundert Jahre, Großmutter! Das ist – wie ist das möglich?“
„Ich war eine Drachin. Ich kann nicht keine sein. Drachen leben sehr viel länger als Menschen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber ich habe nicht ganz ihre Langlebigkeit. Ich lebe länger als die meisten, aber nicht so lang wie ein Drache. Mehr als das weiß
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