Wolf unter Wölfen
hat immer gesagt, er hat keine Bekannten mehr.
»Wann sind sie denn weggegangen?« fragt der Herr wieder.
»Vor einer halben Stunde. Nein, schon vor einer Stunde!« sagt sie hastig. »Und sie haben mir gesagt, sie kommen heute nicht wieder.«
(Er darf nicht zur Thumann hinauf! Nur nicht!)
»So, haben sie Ihnen das gesagt, Fräulein?« fragt der Herr, plötzlich mißtrauisch. »Sie sind wohl befreundet mit Pagels?«
»Nein! Nein!« protestiert sie hastig. »Sie kennen mich nur vom Sehen. Es ist nur, weil ich hier immer stehe, daß sie es mir gesagt haben.«
»So …«, sagt der Herr nachdenklich. »Na, dann danke ich auch schön.« Und er geht langsam durch den Torweg auf den ersten Hof.
»Ach bitte!« ruft sie mit schwacher Stimme, geht sogar einige Schritte hinter ihm her.
»Was denn noch?« fragt er, dreht sich um, geht aber nicht wieder zurück. (Er will durchaus hinauf!)
»Bitte!« sagt sie flehentlich. »Das da oben sind so schlechte Leute! Glauben Sie nicht, was Ihnen die von Herrn Pagel sagen. Herr Pagel ist ein sehr feiner, ein sehr anständiger Mann – ich, ich habe nie etwas mit ihm zu tun gehabt, ich kenne ihn wirklich nur vom Sehen …«
Der Mann steht mitten im grellen Sonnenschein auf dem Hof. Er sieht scharf zurück auf Petra, aber er kann sie sicher nicht genau erkennen, wie sie dasteht im dämmrigen Torweg,eine leichte, schwache Gestalt, den Kopf ein wenig vorgebeugt, die Lippen halb geöffnet, gespannt nach der Wirkung ihrer Worte ausschauend, die Hände flehentlich auf die Brust gelegt.
Er reibt den gelbgrauen Bart nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger; nach einem langen Überlegen sagt er: »Keine Angst, Fräulein. Ich glaube auch nicht alles, was mir die Leute erzählen.«
Es klingt nicht bissig, vielleicht ist es gar nicht auf sie gemünzt, es klingt sogar freundlich.
»Ich kenne den jungen Herrn ganz gut. Ich habe ihn gekannt, als er noch so klein war …«
Und er zeigt einen unwahrscheinlich winzigen Abstand von der Erde. Damit aber ist es genug – er nickt Petra noch einmal zu und verschwindet endgültig im Durchgang zum zweiten Hof.
Petra aber gleitet zurück in ihren Schutzwinkel hinter dem Torflügel. Sie weiß jetzt natürlich schon, sie hat alles falsch gemacht, sie hätte diesem alten Herrn, der Wolfgang schon als Kind gekannt hat, gar keine Auskunft geben müssen, nein, sie hätte sagen müssen: Ich weiß nicht, ob hier Pagels wohnen …
Aber sie ist zu müde, zu zerschlagen, zu krank, um darüber weiter nachzudenken. Sie will hier nur stehenbleiben und warten, bis er wieder zurückkommt. Dann wird sie ihm die erhaltene Auskunft vom Gesicht ablesen. Sie wird ihm sagen, was für ein wundervoller Mensch Wolfgang ist, der nie etwas Böses tut, nie jemandem Übles zufügt … Und während sie den Kopf an die kühle Wand legt, die Augen schließt und diesmal fast unwillig die Schwärze kommen spürt, die Fernsein von ihrem Ich und ihren Sorgen bedeutet – währenddem versucht sie, den alten Herrn auf seinem Wege über den Hinterhof zu begleiten. Dann treppauf bis zur Tür der Frau Thumann. Sie meint ihn klingeln zu hören, und nun möchte sie über sein Gespräch mit Frau Thumann nachdenken … Sie wird reden, die Frau, ach, sie wird reden,alles auskramen, sie beide mit Dreck bewerfen, über das verlorene Geld jammern …
Doch plötzlich taucht ihrer beider Zimmer auf, diese häßliche Höhle ist übergoldet vom Schein ihrer Liebe … Ferner und ferner verklingt die Stimme der Pottmadamm, hier haben sie beide gelacht, geschlafen, gesprochen, gelesen … Er stand zähneputzend am Waschtisch, sie sagte etwas …
»Jetzt versteh ich nichts!« schrie er. »Red lauter!«
Sie tat es.
Er putzte. »Lauter! – Verstehe kein Wort, noch lauter!«
Sie tat es, er putzte, schäumte. »Lauter, sag ich!«
Sie tat es, sie lachten …
Hier waren sie gemeinsam gewesen, zusammen, sie hatte auf ihn warten dürfen, nie umsonst …
Und plötzlich sah sie, in einem raschen, schmerzenden Blinzeln, die Straße, wußte, sie ging weiter … Märchenbrunnen … Hermannspark … weiter, immer weiter, immer noch Stadt … Und nun Land, endloses Land, mit Feldern und Wäldern, Brücken, Büschen … Und wieder Städte voller Häuser mit Torwegen, und wieder Land und Wasser, ungeheure Meere … und wieder Länder und Land und Stadt, unfaßbar … Und die Möglichkeit, hinauszugehen, alles hinter sich zu lassen, die tausend Möglichkeiten des Lebens, an jeder Ecke, in jedem Dorf … Alles
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