Wolf unter Wölfen
vorschriftsmäßig sitzt. Also auf den dunklen Flur vor den großen Spiegel. Es ist ärgerlich, das elektrische Licht füreinen so kurzen Augenblick einschalten zu müssen (der Stromverbrauch soll im Augenblick des Einschaltens am höchsten sein), aber es hilft nichts.
Nun ist alles fertig, zwanzig Minuten vor vier – eine Minute vor vier wird Oberwachtmeister Leo Gubalke auf dem Revier sein. Er steigt die Treppen hinab, einen weißen Handschuh hat er angezogen, den andern hält er lose in der Hand – so nähert er sich dem Torweg und dem Mädchen Petra Ledig.
Das Mädchen lehnt wieder mit geschlossenen Augen an der Wand. Als sie eben den Diener Ernst um Schrippen bat, als er fortging, sie zu holen, überfiel sie eine so lebhafte Vorstellung des jetzt ganz nahen Gebäcks … Sie meinte es zu riechen, es war plötzlich etwas von dem frischen, nahrhaften Geschmack in dem verbrauchten, filzigen Munde eingekehrt – sie mußte schlucken. Dann würgte es sie.
Es wurde wieder schwarz in ihrem Kopf, die Glieder gaben nach, als wäre gar kein Halt mehr in ihnen, die Knie waren weich, und ein ständiges Zittern und Schlagen saß in Armen und Schultern.
»Oh, komm doch! Bitte, komm doch!« Aber sie weiß nicht, wen sie flüsternd, ganz allein in ihrer Hungerhölle, herbeiwünscht – den Diener oder den Geliebten.
Der Oberwachtmeister der Schupo Leo Gubalke hat natürlich stehenbleiben müssen, er sieht sich dies erst einmal an. Er kennt das Mädchen vom Sehen, da sie im gleichen Hause mit ihm wohnt, wenn auch hinten. Etwas Ungünstiges über sie ist ihm von Dienst wegen nicht bekannt. Immerhin wohnt sie bei einer Frau, die gelegentlich auch Prostituierte beherbergt, und lebt, ohne verheiratet zu sein, mit einem jungen Manne, der anscheinend nur spielt. Berufsmäßiger Spieler – wenn man etwas auf die Klatschereien der Frauen geben kann. Alles in allem liegt also weder zu besonderer Strenge noch zur Milde irgendein Grund vor – der Beamte beobachtet und überlegt.
Selbstverständlich hat sie zuviel getrunken – aber sie ist nahe bei ihrer Wohnung und wird die Treppen schon hinaufkommen.Außerdem beginnt sein Dienst erst um vier Uhr. Er braucht nichts gesehen zu haben, was um so eher geht, da dies nicht sein Bezirk ist und da sie ihn noch nicht bemerkt hat. Gubalke will schon fortgehen, da wirft ein neuer, heftiger Würgeanfall ihren Oberkörper nach vorn, Gubalke sieht direkt in den Mantelausschnitt hinein – und sieht fort.
Dies geht nun doch nicht. Dies kann er nicht übersehen, ein ganzes, säuberliches, ordentliches Leben steht dagegen auf. Der Oberwachtmeister geht auf das Mädchen zu, tippt die mit geschlossenen Augen Würgende mit dem behandschuhten Finger auf die Schulter und sagt: »Na – Fräulein?!«
Sein Beruf, der den Polizisten skeptisch gegen alle Mitmenschen macht, läßt auch das Vertrauen auf die eigenen Wahrnehmungen nicht intakt. Bis hierher hatte der Oberwachtmeister Leo Gubalke geglaubt, das Mädchen sei völlig betrunken, und ihr Anzug oder, richtiger, Auszug konnte diesen Glauben nur bestätigen. Kein Mädchen, das nur ein bißchen auf Ordnung an sich und um sich hielt, ging so auf die Straße.
Aber dieser Blick, der ihn aus den Augen des Mädchens traf, als er ihr die Hand auf die Schulter legte, dieser flammende und doch klare Blick, gequälte Kreatur, doch mißachtend ihre Qual – dieser Blick zerstreute jeden Gedanken an Alkohol. In einem ganz andern Ton fragte er: »Sind Sie krank?«
Sie lehnte an der Wand. Undeutlich nur waren ihr die Uniform, der Tschako, das rosige, volle Gesicht mit dem rötlichblonden strubbligen Bart vor Augen. Undeutlich war ihr, wer sie fragte, wem sie antworten sollte, was sie zur Antwort sagen sollte. Doch versteht vielleicht keiner so gut wie ein ordentlicher Mensch, der alle Tage mit aller Unordnung der Welt zu kämpfen hat, welchen Umfang diese Unordnung annehmen kann. Aus wenigen Fragen, mühsamen Antworten hatte sich Oberwachtmeister Gubalke rasch ein Bild des Sachverhalts aufgebaut, er wußte auch schon, daß nur auf ein paar Schrippen gewartet werden sollte, daß das Mädchendann vorhatte, um die Ecke zum »Onkel« zu gehen, der ihr bestimmt mit einem Kleid aushelfen würde, daß dann irgendwelche Freunde oder Verwandte des Mannes aufgesucht werden sollten (das Fahrgeld hatte sie in der Hand) – kurz, daß das Ärgernis aller Voraussicht nach in wenigen Minuten beseitigt sein würde …
All dies erfuhr der Oberwachtmeister, wußte es nun, und
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