Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wolfsblut

Wolfsblut

Titel: Wolfsblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack London
Vom Netzwerk:
Erfahrung konnte sie nichts darüber wissen, aber aus Instinkt, der Erfahrung der Wolfsmütter, ihrer Vorfahren, erinnerte sie sich daran, daß Väter ihre neugeborene hilflose Nachkommenschaft zuweilen gefressen hatten. Diese Erinnerung bekundete sich als lebhafte Furcht, und sie suchte darum zu verhindern, daß Einauge den Jungen, deren Vater er doch war, zu nahe käme. Aber es war diesmal keine Gefahr, denn der alte Einauge fühlte den Stachel eines Triebes, der auch ihm von seinen wölfischen Vätern überliefert worden war. Er zerbrach sich nicht den Kopf darüber, es lag ihm gleichsam im Blute, und er gehorchte ihm wie etwas ganz Natürlichem, indem er seiner neugeborenen Familie den Rücken kehrte und sich auf die Jagd nach Beute für sich und die Seinen begab.
    Acht bis zehn Kilometer von der Höhle aufwärts teilte sich der Strom, und die Gabelung führte im rechten Winkel bis in die Berge hinauf. Er wandte sich links und traf auf eine frische Spur. Er beschnupperte sie und fand sie so frisch, daß er sich niederlegte und in die Richtung blickte, in der sie sich verlor. Dann kehrte er gemütlich um und lief den rechten Flußarm hinauf. Die Fußspuren, die er gesehen hatte, waren viel größer als die eigenen, und er wußte, daß es auf einer solchen Spur wenig Wild für ihn gäbe.
    Ungefähr tausend Schritt aufwärts am rechten Flußufer vernahm sein scharfes Ohr das Geräusch nagender Zähne. Er ging langsam darauf los und fand ein Stachelschwein, das aufrecht an einem Baume stand und dessen Rinde mit den Zähnen bearbeitete. Einauge näherte sich vorsichtig, doch ohne Hoffnung. Er kannte diese Art von Tieren, obgleich er ein solches noch nie zuvor so weit im Norden angetroffen hatte; auch hatte ihm keines je als Mahlzeit gedient. Allein er wußte seit langem, daß es so etwas wie einen Zufall oder eine günstige Gelegenheit gäbe, und er kam immer näher. Man konnte ja niemals wissen, was geschehen würde, denn wo lebende Wesen im Spiel waren, geschah alles immer anders, als man dachte.
    Das Stachelschwein rollte sich zu einem Ball zusammen und streckte die langen, scharfen Stacheln nach allen Richtungen aus, um den Angriff abzuwehren. In der Jugend war Einauge einem solchen, scheinbar regungslosen Ball mit der Nase zu nahe gekommen. Da war dessen Schwanz ihm plötzlich ins Gesicht geschossen, und ein Stachel war in seiner Nase steckengeblieben, wo er wochenlang wie Feuer gebrannt hatte, bis er schließlich herausgeeitert war. Also duckte er sich bequem nieder, die Nase mehr als einen Fuß breit von der Schnauze entfernt und wartete ruhig. Man konnte ja nicht wissen: das Stachelschwein mochte sich aufrollen, und dann war eine gute Gelegenheit, die Pfote ihm rasch und derb in den weichen, ungeschützten Leib zu schlagen.
    Allein nach einer halben Stunde erhob er sich, knurrte zornig den regungslosen Ball an und trabte weiter. Er hatte zu oft vergeblich darauf gewartet, daß Stachelschweine sich aufrollen sollten, um damit noch mehr Zeit zu verlieren, und so schritt er am rechten Flußarm weiter. Doch der Tag verging, und sein Suchen blieb unbelohnt.
    Der Trieb der erwachten Vaterliebe war mächtig in ihm. Er mußte Speise finden. Da stieß er am Nachmittag auf ein Schneehuhn. Der einfältige Vogel saß nicht drei Fuß von ihm entfernt auf einem umgefallenen Baumstamm, als er gerade aus dem Dickicht kam. Die beiden blickten einander an, und der Vogel fuhr erschrocken auf, aber Einauge schlug mit der Pfote nach ihm, warf ihn zu Boden, sprang darauf los und packte ihn mit den Zähnen, als er versuchte, über den Schnee zu laufen, um aufzufliegen. Als er das zarte Fleisch und die weichen Knochen durchbiß, bekam er Lust, die Beute zu verzehren. Dann erinnerte er sich, kehrte um und lief mit dem Schneehuhn im Maule heim.
    Eine Strecke oberhalb der Gabelung, als er wie ein gleitender Schatten auf Sammetpfoten dahinlief und vorsichtig bei jeder Wendung des Weges ausschaute, traf er wieder auf die frischen, großen Fußspuren, die er am Morgen entdeckt hatte. Sie führten auf seinem Wege entlang, und so folgte er ihnen in der Erwartung, bei jeder Biegung des Flußufers dem Tier zu begegnen, das sie gemacht hatte. Als er einmal den Kopf um die Felsecke streckte, wo eine ungewöhnlich langgezogene Biegung des Flüßchens begann, erspähte sein schnelles Auge etwas, das ihn rasch niederducken ließ. Die Spuren, die er gesehen hatte, rührten von einer großen Luchsin her, und da lag sie geduckt vor der

Weitere Kostenlose Bücher