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Wolfsblut

Wolfsblut

Titel: Wolfsblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack London
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Wölfin, allein sie hatten es von all den Generationen von Wölfen geerbt, die vor ihnen gelebt hatten. Furcht – das Erbe der Wildnis, dem kein Geschöpf entgeht – kann nicht für ein Gericht Linsen veräußert werden.
    So also kannte das Graue die Furcht, ohne zu wissen, was diese eigentlich bedeute. Möglicherweise sah es sie als eine Schranke des Lebens an, denn es hatte schon gelernt, daß es solche Schranken gibt. Er kannte den ungestillten Hunger, die Härte der Höhlenwand, den derben Stoß der mütterlichen Nase, den hurtigen Schlag ihrer Pfote – all das hatte ihm gezeigt, daß nicht alles in der Welt Freiheit sei, sondern daß es im Leben Hemmnisse gibt. Diese Hemmnisse waren für das Graue Gesetze; war man diesen gehorsam, so entging man der Strafe und war glücklich. Nicht, daß es wie ein Mensch überlegt hätte, sondern es teilte die Dinge in solche ein, die weh taten, und in solche, die angenehm waren, und danach vermied es die einen, um die Annehmlichkeiten der andern zu genießen.
    So kam es, daß es, dem Gebot der Mutter und dem Gesetz jenes geheimnisvollen Schrecknisses, der Furcht, gehorsam, sich von dem Eingang der Höhle fernhielt. Diese blieb für das Graue die weiße, lichte Wand. War die Mutter abwesend, so schlief es die meiste Zeit, und in den Zwischenzeiten verhielt es sich ruhig, indem es den Kitzel im Halse unterdrückte, der sich in winselnden Tönen Luft machen wollte.
    Als es so einst wachend dalag, hörte es in der weißen Wand einen seltsamen Ton. Es wußte nicht, daß ein Vielfraß draußen stand und zitternd ob der eigenen Kühnheit vorsichtig den Inhalt der Höhle beschnupperte. Das Wölflein wußte nur, daß der Ton seltsam klang, wie etwas, was es noch nie gehört hatte, und darum war es voller Schrecken, denn das Unbekannte vor allem flößte ihm Furcht ein.
    Das Haar auf seinem Rücken richtete sich lautlos empor. Was wußte es davon, daß bei irgendeinem Ton sein Haar sich emporrichten sollte? Das war kein angeborener Instinkt, nur der sichtbare Ausdruck der ihm innewohnenden Furcht, für die es in seinem Leben keine Erklärung gab. Auch war die Furcht von einem weitern Instinkt, dem, sich zu verbergen, begleitet. Das Wölflein war außer sich vor Schreck, doch blieb es so regungslos und still, als ob es versteinert oder tot wäre. Als die Mutter heimkam, knurrte sie, als sie die Spur des Vielfraßes fand. Sie eilte in die Höhle und leckte und liebkoste ihr Junges voll ungewöhnlicher Zärtlichkeit, und dieses fühlte, daß es einer großen, unbekannten Gefahr entgangen sei.
    Aber noch andere Kräfte arbeiteten in dem jungen Wolfe, vor allem seine zunehmende Stärke. Instinkt und mütterliches Verbot verlangten von ihm Gehorsam, aber sein Wachstum drängte ihn zum Ungehorsam. Die Mutter und seine Furcht warnten ihn vor der weißen Wand, aber Wachstum ist Leben, und das Leben strebt von jeher nach dem Lichte. Die wachsende Lebenskraft in ihm ließ sich nicht mehr eindämmen, sie stieg mit jedem Bissen, den es aß, mit jedem Atemzug, den es tat, und am Ende wurden Furcht und Gehorsam eines Tages von dem Lebensdrange weggefegt, und das Wölflein schritt wackelnd und breitbeinig dem Eingange zu.
    Ungleich den andern Wänden, mit denen es bisher zu tun gehabt hatte, schien diese, als es ihr näher kam, vor ihm zurückzuweichen. Seine zarte, kleine Nase, als es sie tastend vorstreckte, kam nicht mit einer harten Fläche in Berührung. Das Material, aus dem diese Wand gemacht war, schien, ebenso wie das Licht, zurückzuweichen, auch konnte man durch das Licht schreiten, und da in seinen Augen Substanz und scheinbare Form eins und dasselbe war, so trat es in das, was ihm als Wand erschien, hinein und badete sich gleichsam darin.
    Es war höchst seltsam. Man konnte also durch feste Wände schreiten, wobei das Licht immer heller wurde. Dann riet ihm die Furcht dringend umzukehren, aber das drängende Leben in ihm trieb es vorwärts. Plötzlich befand es sich am Rande der Höhle. Die Wand, vor der es sich gewähnt hatte, wich auf einmal in unermeßliche Ferne zurück. Das Licht wurde blendend hell, es tat seinen Augen weh, und die jähe Ausdehnung des Raumes machte es schwindlig. Nach und nach gewöhnten sich jedoch seine Augen an die Helligkeit und paßten sich der größeren Entfernung der Gegenstände an. Das erste, was ihm auffiel, war, daß nun die Wand so ungeheuer weit zurückgewichen war. Denn sie erschien jetzt wieder, aber merkwürdig weit entfernt. Auch war ihr

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