Wolfsfalle: Tannenbergs fünfter Fall
Kriminalbeamten stellten ihr Auto auf dem zu einem Supermarkt gehörenden Parkplatz ab. Als Tannenberg ausgestiegen war, ließ er seinen staunenden Blick die Plattenbau-Fassade hinaufwandern, die von kleinen Balkonen optisch aufgelockert wurde.
»Ganz schön hoch«, stellte er beeindruckt fest. »Das sieht von hier aus ja noch viel imposanter aus, als wenn man auf der Straße daran vorbeifährt. Was meinst du wohl, wie viele Studenten hier in diesem hässlichen Betonklotz wohnen?«
Sabrina schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, Wolf, absolut keine Ahnung. So was kann ich überhaupt nicht schätzen.«
»Ich auch nicht«, stimmte er schmunzelnd zu.
Nachdem sie schweigend eine kleine Grünanlage durchquert hatten, erreichten sie den überdachten Gebäudeeingang. Links neben der zweiflügeligen Glastür entdeckten sie die Klingelanlage.
»Wie hieß diese Leonie noch mal mit Nachnamen? Hab ich in der Hektik doch glatt vergessen.«
Sicherheitshalber zog die junge Kommissarin ihr Notizbuch zu Rate, das sie stets in ihrer Jacke bei sich trug. »Die Frau hieß nicht nur so, die heißt wahrscheinlich immer noch so: Leonie Kalkbrenner.«
Tannenbergs Augen begannen daraufhin von unten her die unzähligen Klingelschildchen abzuscannen.
»Wolf, was du da gerade machst, ist völlig überflüssig. Denn eigentlich brauchen wir doch nur im 10. Stock nachzuschauen«, warf Sabrina belehrend ein. Bereits einen Augenblick später präsentierte sie ihm mit Hilfe ihres rechten Zeigefingers einen Volltreffer: »Siehst du, hier ist es auch schon: Kalkbrenner/Steiner.«
»Ach, dann lebt die Studentin in einer Wohngemeinschaft«, sagte Tannenberg mehr zu sich selbst.
Sabrina schlug erneut ihr Notizbuch auf. »Ja, und zwar wahrscheinlich mit einem gewissen Lukas Steiner. Den hat sie nämlich als vermisst gemeldet.«
»Stimmt, den Namen hab ich ja vorhin selbst auf dem Fax gelesen.«
Sie betraten den hellen, farbenfrohen Eingangsbereich des Gebäudes, stellten sich wartend vor den Aufzug.
»Sag mal, Wolf, was ist denn los mit dir? Du bist heute gedanklich nicht so ganz bei der Sache, wie mir scheint, oder täusche ich mich da? Hast du vielleicht irgendwelche privaten Probleme?«
»Quatsch!«
Sabrina warf ihm einen kecken Blick zu. »Du weißt doch, mein liebes Wölfchen, dass du mir immer und überall dein Herz ausschütten kannst.«
Tannenberg reagierte mit einem breiten Grinsen. »Vielen Dank für das Angebot, mein liebes Sabrinalein. Nein, bei mir ist alles in Ordnung. Ich bin nur ziemlich verwundert darüber, dass an der Sache mit dem gefundenen Ring nun leider doch mehr dran ist, als ich gehofft hatte.«
»Als ›vorsätzliche Verdrängung‹ oder so was Ähnliches würde die Kollegin Kriminalpsychologin dein Verhalten jetzt wohl bezeichnen.«
»Wieso?«
»Na, weil du von vornherein nicht wahrhaben wolltest, dass da ein neuer Fall auf dich zukommt. Du hast diese Möglichkeit einfach verdrängt.«
Der Leiter des K1 antwortete nicht, sondern zuckte mit nach unten gezogenen Mundwinkeln die Achseln. Dabei presste er ein paarmal geräuschvoll Luft durch die Nase.
»Wie geht’s ihr denn eigentlich?«
»Wem?«
»Der Frau Kriminalpsychologin. Hast du eigentlich noch was mit ihr?«
Tannenberg ignorierte die süffisante Bemerkung seiner jungen Kollegin. Während er einen halblauten Fluch ausstieß, drehte er sich auf dem Absatz um und flüchtete mit Verweis auf eine angebliche Fahrstuhl-Klaustrophobie ins Treppenhaus.
Nach einem etwa fünfminütigen, schweißtreibenden Anstieg traf er schnaubend im 10. Obergeschoss ein.
Höflich hielt ihm Sabrina die Tür auf. »Und wie geht’s ihr nun?«
Tannenberg musste erst einmal einen Augenblick verschnaufen, bevor er antworten konnte.
»Hör doch endlich mal auf mit diesem albernen Blödsinn«, sagte er sichtlich genervt. »Sag mir lieber, ob du inzwischen die Wohnung der Studentin gefunden hast.«
»Ja, komm, es ist gleich da vorne um die Ecke.«
Da Sabrina inzwischen den Eindruck gewonnen hatte, mit ihren Provokationen ein wenig zu weit gegangen zu sein, hakte sie sich bei ihrem Vorgesetzten und väterlichen Freund unter. »Wolf, verzeih mir bitte. Ich glaub, ich habs gerade ein wenig übertrieben. Ich wollte dich wirklich nicht ärgern.«
»Schon gut.«
Sabrina läutete.
Die junge Frau, die nach ein paar Sekunden im Türrahmen erschien, erweckte sofort das Mitgefühl der beiden Ermittler. Man sah ihr deutlich an, dass die quälende Ungewissheit über den Verbleib ihres
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