Wolfsfeder
die Zwillingskiefer erreichen.
Noch bevor Mendelski sein Fernglas erneut
ansetzen konnte, sah er, wie das geheimnisvolle Tier sein Versteck verließ und
mit eleganten Sprüngen auf seinen Ansitzbock zugerast kam.
Es war kein Wolf.
Es war ein Reh. Genauer gesagt ein recht
kapitaler Rehbock, wie Mendelski zu erkennen glaubte. In hohem Tempo passierte
das Stück den Ansitzbock. Da männliches Rehwild seit wenigen Tagen Schonzeit
hatte, schaute der Kommissar dem Bock entspannt nach.
Der Wachtel, der das Reh nun in Sichtweite
hatte, gab frustriert Laut. Der Verfolger war deutlich langsamer als der
Verfolgte. Anscheinend spielte der Bock Katz und Maus mit ihm.
Bald waren Rehbock und Jagdhund außer
Sichtweite. Im Kiefern-Altholz kehrte wieder Ruhe ein.
Mendelski lehnte sich zurück. Er war doch
ein wenig enttäuscht, dass es kein Wolf gewesen war.
* * *
Mit zittrigen Fingern strich er
ihr die Haarsträhnen aus der Stirn. Behutsam und liebevoll. So, als ob er ihr
kein Haar krümmen könnte.
Eigentlich waren es keine Strähnen, sondern
Locken. Nasse Locken, die sich mit Regenwasser vollgesogen und in die Länge
gezogen hatten. Pechschwarz und schwer lagen sie auf der braunen Haut. Er hatte
alle Mühe, die widerspenstigen Haare mit seinen Fingerkuppen zu bändigen. Immer
wieder entzogen sie sich seinem Zugriff, kräuselten sich und fielen zurück in
ihre alte Position.
Anstatt sich zu ärgern, lächelte er milde.
Wie schön sie doch ist, dachte er. Auch
jetzt noch, nachdem sie bereits mehrere Stunden tot war.
Noch einmal rückte er die tropfnassen
Fichtenzweige zurecht. Dann hatte er sein Werk vollendet. Er erhob sich und
trat einen Schritt zurück – die Hände gefaltet, mit wie zum Gebet
gesenktem Blick.
Ein Schuss in der Ferne unterbrach seine
Andacht und holte ihn in die Gegenwart zurück. Ein zweiter Schuss mit
Kugelschlag, dieses Mal ganz in der Nähe, folgte unmittelbar.
Er musste hier weg. Schweren Herzens
wandte er seinen Blick von ihr ab und entfernte sich mit eiligen Schritten. Er
war bereits in den Schatten einer tief betrauften Fichte eingetaucht, als er
plötzlich innehielt. Nachdem er einige Sekunden nachgedacht hatte, kehrte er
noch einmal zurück.
Mit dem Absatz seines Stiefels kratzte er
etwas in den sandigen Waldboden.
Dann machte er sich davon.
* * *
Unweit einer Waldwegekreuzung befand
sich ein Baumrondell aus sieben urigen Stieleichen. Der Platz für die
Mittagspause hätte malerischer nicht sein können.
Als Mendelski und der restliche
Schwertfeger-Trupp eintrafen, riss für einen Augenblick die Wolkendecke auf,
und die Sonne brach durch. Das gelbe Laub der Eichen leuchtete mit solcher
Intensität, dass der Kommissar die Augen zusammenkneifen musste.
In der Mitte des Rondells loderte wieder
ein Feuer. Die kühle Feuchtigkeit war Mendelski durch das dreistündige Ansitzen
im Regen trotz des Daches in die Knochen gezogen. Fröstelnd steuerte er
schnurstracks auf die Flammen zu und hielt mit Wonne die klammen Finger
darüber.
»Na, Waidmannsheil gehabt?«, hörte er eine
Stimme neben sich fragen. Von Bartling war zu ihm ans Feuer getreten. Auch er
hielt seine Hände über die wärmenden Flammen.
»Nein, noch nicht«, erwiderte Mendelski.
»Aber prächtigen Anblick hatte ich schon. Ein fünfköpfiges Hirschrudel ist bei
mir aufgetaucht, junge, verspielte Burschen, zwei Sechser, zwei Achter und ein
Eissprossenzehner. Gut fünf Minuten haben sie sich bei mir aufgehalten, sodass
ich sie in Ruhe studieren konnte.«
»Von dem Rudel wurde mir schon berichtet.«
Von Bartling nickte einer Waidgesellin zu, die sich an seine andere Seite
gestellt hatte. »Aber unser Hirschabschuss dieses Jahr ist schon erfüllt.«
Mendelski stieg der Geruch von heißer
Fleischbrühe in die Nase. Neugierig schaute er sich um.
»Die Suppe wird dort drüben gereicht«,
sagte von Bartling als Reaktion auf die Bewegung seines Jagdgastes. »Nach so
einem nasskalten Vormittag schmeckt etwas Heißes besonders gut.«
Wenig später hockte Mendelski auf einem
Baumstubben und schlürfte eine wohltuende Fleischbrühe aus einer Plastikschale.
Die belebende Wärme durchdrang nach und nach seinen Körper. Die langen, noch immer
wärmenden Strahlen der Oktobersonne und das malerische Ambiente taten ihr
Übriges. Mendelski grunzte vor Wohlbehagen. Der Kriminalhauptkommissar, der
seine Mittagspausen gewöhnlich in der Polizeikantine in der Jägerstraße
verbrachte, genoss dieses archaische Mahl unter freiem Himmel –
Weitere Kostenlose Bücher