Wolfsfeder
zum
Boden reichte. »Während der Elchjagd stand er mir plötzlich auf einem Wechsel
gegenüber. Keine fünf Meter entfernt. Mannomann, das war schon ein mulmiges
Gefühl.«
Bevor Mendelski etwas erwidern konnte,
reagierte sein linker Nachbar, ein großer, hagerer Mann mit abgewetzter brauner
Barbour-Jacke und grünen Gummistiefeln. »Und? Was passierte dann?«, fragte er,
wobei er sich vorbeugte, um an Mendelski vorbeizuschielen. Er hatte seinen
breitkrempigen Hut so in den Nacken geschoben, dass die Schweißperlen auf
seiner Stirn sichtbar waren. Das Feuer heizte ihnen allen mächtig ein.
»Der Wolf hat bedrohlich geknurrt und
seine Lefzen hochgezogen, sodass ich seine prächtigen Eckzähne begutachten
konnte. Zum Glück bin ich ganz ruhig geblieben und habe einfach abgewartet.
Nachdem wir uns eine Ewigkeit – ich schätze so zwei bis drei
Minuten – bewegungslos angestarrt hatten, klemmte er schließlich seine
Rute ein, machte den Rücken krumm und zog von dannen.«
»Na, das klingt aber verdächtig nach
Jägerlatein«, urteilte der Lange lachend. »Die Spezialausgabe vom Polarkreis.«
»Mitnichten!«, beschwerte sich der andere
und zog ein beleidigtes Gesicht. Er suchte Unterstützung bei Mendelski. »Sie
müssen wissen, mit Latein befasse ich mich nur in der Schule, nicht bei der
Jagd«, erklärte er dem Kommissar. Der hatte gar nicht vorgehabt, sich in dieses
Wortgeplänkel einzumischen. »Jägerlatein – so etwas habe ich nicht nötig.«
Er wandte sich wieder dem anderen zu. »Waren Sie denn überhaupt schon mal in
Finnland?«
»Nicht nur in Finnland …«
»Jagdscheinkontrolle!« Der Parkplatzeinweiser
mit den Schrammen im Gesicht war ans Feuer getreten und unterbrach kurzerhand
ihr Gespräch über finnische Wälder. »Darf ich bitte die Jagdscheine sehen?«
Die Umstehenden zückten ihre Brieftaschen
und hielten dem Jagdgehilfen das Gewünschte unter die Nase. Auch Mendelski
präsentierte sein Dokument. Er hatte den Jagdschein erst vor wenigen Tagen
gelöst. Es war bis dahin nicht notwendig gewesen, denn die Bockjagd in diesem
Sommer hatte er trotz mehrerer Einladungen sausen lassen.
»Und wer von Ihnen bleibt heute Abend zum
Schüsseltreiben?« Der Jagdgehilfe hielt ein Klemmbrett mit einer Namensliste
bereit, und setzte mit einem Kugelschreiber an den entsprechenden Stellen
Häkchen. Alle am Feuer Versammelten meldeten sich an – bis auf Robert
Mendelski. Er hatte am Abend einen wichtigen Termin. Ana wollte ihm und Carmen
ihren neuen Freund vorstellen. Einen Ajub, gebürtig im Libanon und Student der
Tiermedizin, der, wie Ana neuerdings auch, seit einem Jahr in Hannover-Kleefeld
lebte.
Doch diesen Termin – das wusste der
Kommissar zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht – würde er aus
dienstlichen Gründen leider nicht einhalten können.
»Bitte sammeln!«, rief Mark von
Bartling schließlich und wartete einen Moment, bis alle Gespräche verstummt und
die Jäger näher gekommen waren.
Die Begrüßung und Ansprache des Jagdherrn
war militärisch knapp und präzise. Als er zur Freigabe der Wildarten kam, wies
von Bartling ausdrücklich darauf hin, dass er am Abend auf dem Streckenplatz
keinen – so wörtlich – »Canis lupus« zu sehen wünsche. Die Wölfe seien in den niedersächsischen
Wäldern gern gesehene Gäste und verdienten den Schutz der Jägerschaft.
»Und wenn der Wolf nun eindeutig krank
ist?«, fragte jemand dazwischen. »Dann darf man doch einen Fangschuss
anbringen?«
»Nein, darf man nicht«, erwiderte von
Bartling entschieden. »Der Wolf unterliegt nicht dem Jagdrecht, er steht unter
Naturschutz. Sie schießen ja auch nicht auf einen Weißstorch, der einen
gebrochenen Flügel hat. Also lassen Sie bitte beim Wolf in jedem Fall den
Finger gerade.«
Niemand wagte zu widersprechen –
jedenfalls nicht offen. Wie Mendelski an den verstohlenen Blicken und kleinen
Gesten in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu erkennen glaubte, lag aber
nicht jeder in der Jagdkorona beim Thema Wölfe auf der gleichen Wellenlänge wie
der Jagdherr.
Schließlich wurden die Gruppen eingeteilt.
Mendelski landete in einer Vierergruppe unter der Führung eines einarmigen
Pensionärs und Haudegens mit dem passenden Namen Schwertfeger. Johann
Schwertfeger, ein – wie der Kommissar noch erfahren sollte – vor
ewigen Zeiten »Zugereister« aus dem fernen Bayern, forderte seine Truppe mit
kräftigem bayrischen Akzent auf, sich auszustaffieren und sich zügig bei seinem
Wagen
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