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Wolfsherz

Wolfsherz

Titel: Wolfsherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Geräusch, das er unter normalen Umständen nicht einmal zur Kenntnis genommen hätte. Jetzt kam es ihm vor wie das Krachen einer Maschinengewehrsalve, das von einem Ende des Tales zum anderen zu rollen schien.
    Offenbar ging es nicht nur ihm so. Auch Wissler war zusammengefahren und warf einen nervösen Blick in die Dunkelheit hinein. Seine dick behandschuhten Finger glitten in einer unbewußten Bewegung über Schaft und Lauf der Waffe, die vor seiner Brust hing. Er trat von einem Fuß auf den anderen. Der Schnee unter seinen Stiefeln knirschte hörbar.
    »Wohin?« fragte Stefan.
    Wissler drehte sich halb um seine Achse und deutete schließlich in die Nacht hinein; Stefan hatte das Gefühl, ziemlich willkürlich. Stefan ersparte sich die Frage, was dort lag. Dunkelheit, Nacht und eine unbekannte, drohende Gefahr. Rebecca und er schlössen sich Wissler an, als er losmarschierte. Die Felsen fielen rasch hinter ihnen zurück und verschwanden in der Dunkelheit, und obwohl die Sicht kaum weiter als zwei Schritte reichte, spürte Stefan, daß sie nun in einen tiefen, urtümlicheren Teil des Waldes eindrangen. Auf dem Boden lag nur noch wenig Schnee, der den Weg durch das dichte Blätterdach gefunden hatte, und die Echos ihrer Schritte klangen plötzlich verändert; dumpf und wattiger, als fehle plötzlich eine ganze Facette der Töne, die normalerweise zu hören waren.
    Irgendwo sehr weit entfernt - wenn auch nicht annähernd so weit, wie Stefan lieb gewesen wäre - heulte ein Wolf. Stefan unterdrückte im letzten Moment ein erschrockenes Zusammenzucken, aber Rebecca blieb mitten im Schritt stehen und sah sich aus angstvoll geweiteten Augen um. Trotz der dicken Handschuhe konnte Stefan fühlen, wie sich ihre Finger in seiner Hand versteiften.
    Auch Wissler war stehengeblieben und hatte sich wieder zu ihnen herumgedreht. »Keine Sorge«, sagte er. »Das ist nichts.«
    »Das ist ein Wolf«, korrigierte ihn Rebecca. Ihre Stimme zitterte.
    »Aber er ist weit weg«, antwortete Wissler beruhigend.
    »Das hat der russische Soldat wahrscheinlich auch gedacht«, sagte Rebecca. Ihre Stimme... veränderte sich, und Stefan begriff die Gefahr, in der sie schwebte. Ihre Kraftreserven waren aufgezehrt. Sie schlitterte auf den Rand eines hysterischen Anfalls zu, und sie tat selbst ihr Bestes, um diesem Sturz immer noch mehr Schwung zu verleihen.
    »Uns passiert nichts«, sagte er, lauter, aber trotzdem so ruhig er nur konnte. »Sie sind weit weg.« Er warf Wissler einen hilfesuchenden Blick zu. Der Amerikaner nickte unmerklich, zwang ein beruhigendes Lächeln auf sein Gesicht und schlug mit der flachen Hand auf die Maschinenpistole.
    »Und selbst wenn«, fügte er hinzu. »Ich passe schon auf.«
    Irgendwie klang das lächerlich, fand Stefan. Beruhigend, aber trotzdem lächerlich. Die Waffe würde ihnen nichts nützen, wenn sie tatsächlich auf Wölfe stießen. Dem Russen hatte sie nichts genützt, und er war weitaus besser bewaffnet gewesen als Wissler. Aber er hütete sich, irgend etwas davon auszusprechen. Rebecca schien sich wieder gefangen zu haben, war aber mit Sicherheit noch immer in einem Zustand, in dem ein einziges unbedachtes Wort ausreichen mußte, die endgültige Katastrophe auszulösen.
    Der Wolf heulte immer noch weiter, aber Stefan war plötzlich fast froh über das Geräusch. Es hörte sich nach wie vor unheimlich und drohend an, aber es war auch sehr
weit
entfernt. Und es kam eindeutig
nicht
näher.
    »Kommen Sie«, sagte Wissler aufmunternd. »Es ist nicht mehr weit.« Er streckte die Hand aus, aber Rebecca trat rasch einen halben Schritt zurück, und Wissler ließ den Arm mit einem angedeuteten Achselzucken wieder sinken. Er sah Stefan fast strafend an, drehte sich aber wortlos herum und ging weiter. Stefan fragte sich, wie er bei der herrschenden Sicht die Orientierung behielt. Er selbst hätte sich schon nach zwei Schritten hoffnungslos verirrt. Nicht einmal das immer noch anhaltende Heulen des Wolfs war eine Orientierungshilfe. Die Akustik in diesem dichten Teil des Waldes war so verwirrend, daß er nur feststellen konnte, daß es von sehr weit her kam; nicht aus welcher Richtung.
    Ein weiterer Gedanke kam ihm, und es war vielleicht der Unheimlichste von allen: Wenn das, was Wissler ihnen über das Wolfsherz erzählt hatte, der Wahrheit entsprach, dann waren sie vielleicht seit Jahrhunderten die ersten Menschen, die dieses Tal betraten. Vielleicht seit Jahrtausenden, und vielleicht
überhaupt.
Möglicherweise -

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