Wolfsherz
echt war. Sie hatte das Geräusch erkannt. Die Vorstellung beunruhigte ihn, obwohl er nicht sagen konnte, warum.
Sie schlichen praktisch auf Zehenspitzen weiter. Ein nicht sehr starker, aber eisiger Wind blies ihnen ins Gesicht und trieb Stefan die Tränen in die Augen. Er blinzelte, wischte sie weg und biß die Zähne zusammen. Später, bei irgendeiner der zahllosen Gelegenheiten, bei denen diese Minuten wieder und wieder an seinem inneren Auge vorbeizogen, sollte ihm klar werden, daß ihnen dieser Eiswind wahrscheinlich das Leben gerettet hatte, aber in diesem Moment empfand er ihn nur als Qual.
Und im nächsten hatte er ihn vergessen. Ebenso wie Wissler, die Russen, ja, für eine oder zwei Sekunden sogar Rebecca, obwohl sie unmittelbar neben ihm stand. Der Anblick war so bizarr, daß er im allerersten Moment felsenfest davon überzeugt war, zu träumen.
Vor ihnen befand sich eine weitere, allerdings sehr viel kleinere Lichtung im Wald, über der das Blätterdach nicht ganz so dicht war, so daß der Schnee den Boden ungehindert erreicht hatte. Das frisch gefallene Weiß bildete einen guten Kontrast, so daß er die beiden Wölfe, die auf der anderen Seite der Lichtung saßen, fast so deutlich wie im hellen Tageslicht erkennen konnte. Außer ihnen gab es noch ein drittes Lebewesen auf der Lichtung. Es war ein vielleicht drei-, allerhöchstens vierjähriges Kind, das nackt auf Händen und Füßen durch den Schnee kroch und weder die Kälte, noch die beiden Raubtiere zu fürchten schien, denn die Laute, die Becci gehört und sie beide hierhergelockt hatten, waren eindeutig ein Lachen.
Becci hatte recht gehabt. Was sie oben auf dem Berg gehört hatten,
war
ein Kind gewesen.
Aber irgend etwas stimmte nicht.
Das Kind hatte keine Angst.
Die beiden Wölfe, die reglos wie in schwarzen Granit gemeißelte Statuen dasaßen und es beobachteten, waren nicht auf der Jagd.
Sie hätten das Kind längst zerreißen können, aber sie sahen es nicht an, wie Wölfe ihre Beute anstarren würden.
Sie sahen eher aus wie...
Wächter?
Das war lächerlich!
Geschichten von Kindern, die in der Obhut von Wölfen oder anderen wilden Tieren aufgewachsen waren, gehörten ins Reich der Phantasie und sonst nirgendwohin.
Neben ihm stieß Rebecca ein halblautes Keuchen aus, und das Geräusch brach den Bann. Stefan fand schlagartig in die Wirklichkeit zurück, und die Köpfe die beiden Wölfe ruckten in einer absolut synchronen Bewegung herum. Bisher hatte sie der Wind beschützt, der nicht nur ihre Witterung, sondern auch die leisen Geräusche, die sie auf ihrem Weg durch den Wald verursachten, von den Wölfen fortgetragen hatte, aber nun sahen die Tiere sie.
Ein Gefühl eisigen Schreckens breitete sich in Stefan aus.
Für eine Sekunde schien die Zeit einfach stillzustehen. Die beiden Wölfe starrten sie an, und das schwache Licht, daß sich auf ihren Pupillen brach, ließ ihre Augen tatsächlich auf unheimliche Weise leuchten. Ein tiefes, drohendes Knurren erklang. Es war ganz anders als das Knurren eines Hundes; tiefer, drohender und auf eine nicht in Worte zu kleidende Weise
gewalttätiger.
»Großer Gott«, flüsterte Stefan. »Becci, lauf weg!«
Sie rührte sich nicht. Ihr Blick war starr auf das Kind gerichtet, das aufgehört hatte, im Schnee herumzukriechen und zu lachen, sondern nun mit schräggehaltenem Kopf zu ihnen empor sah, und irgend etwas Erschreckendes begann auf ihrem Gesicht Gestalt anzunehmen. Stefan wußte sofort, was es bedeutete.
Die beiden Wölfe erhoben sich. Eines der Tiere kam knurrend näher, während das andere mit zwei raschen Schritten zwischen sie und das Kind - Stefan sah jetzt, daß es ein Mädchen war - trat; in einer eindeutig beschützenden Bewegung.
»Becci, lauf weg!« keuchte Stefan. Sie rührte sich immer noch nicht, so daß Stefan dasselbe tat wie der Wolf und sich mit einem raschen Schritt zwischen sie und das zweite Tier schob; eine leere Geste, mehr nicht, und ein erbärmlicher Schutz, falls der Wolf wirklich angriff. Stefan wußte nicht viel über Wölfe, aber allein der Anblick der beiden Tiere machte ihm klar, daß sie nicht mit Hunden zu vergleichen waren und auch nicht mit den ausgemergelten, heruntergekommenen Zerrbildern ihrer Spezies, die er zwei- oder dreimal im Zoo gesehen hatte. Er hatte so manchen Schäferhund gesehen, der größer und muskulöser als diese Wölfe war, aber er war niemals einer Kreatur begegnet, die so wild, so gefährlich und so kompromißlos erschien. Er konnte
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