Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen
auf.
7:56 Uhr: Mephisto macht einen Rundgang und markiert.
8:02 Uhr: Mephisto schläft.
8:06 Uhr: Mephisto steht auf, scharrt, geht zu den anderen Wölfen, legt sich hin.
8:13 Uhr: Mephisto schläft.
Nach den ersten Tagen war mir klar, dass der elfjährige Mephisto mit seinem charismatischen literarischen Namensvetter aus Goethes Faust wenig gemeinsam hatte. Von ihm konnte ich kaum aufregende Beobachtungen erwarten – es sei denn, man zählt »schlafender Wolf« dazu. Ich beschloss, es fortan mit dem Unruhestifter Chinook zu versuchen. Und tatsächlich. Meine Aufzeichnungen änderten sich:
7:15 Uhr: Chinook streckt sich.
7:16 Uhr: Chinook heult zwei Minuten fünfzehn Sekunden lang.
7:20 Uhr: Chinook läuft zum Rest der Gruppe.
7:21 Uhr: Chinook wirft sich vor Imbo auf den Rücken.
7:25 Uhr: Chinook spielt mit Vega.
7:29 Uhr: Chinook schnappt nach Aurora.
Man muss aufpassen, was man sich wünscht, dachte ich, es könnte in Erfüllung gehen. Mit der Beobachtung von Chinook hatte ich keine freie Minute mehr. Der Wolf war ständig in Aktion und hielt mich mit den Aufzeichnungen auf Trab.
Mit der Zeit lernte ich die Wölfe des »Main Pack« näher kennen. Als Leitpaar waren Imbo und Altair zwei sehr souveräne und gelassene Wölfe. Ein Blick der beiden reichte, um ein »unpassendes« Verhalten der anderen zu unterbinden.
Das funktionierte nur bei Chinook nicht, der mit seinen zwei Jahren noch zu jung war, um dem sieben Jahre älteren Leitwolf zu imponieren. Der kräftige, schwarze Chinook war ein rüpelhafter, selbstbewusster Teenager, der zu wissen schien, dass das Schicksal noch Großes mit ihm vorhatte. Ein Jahr |29| nach meinem Praktikum, als Imbo starb, übernahm Chinook automatisch die Führung der Gruppe. Der wilde Jungwolf musste quasi über Nacht erwachsen werden. Altair blieb auch nach Imbos Tod Leitwölfin. Ihre Schwester Vega, eine wunderschöne schwarze Wölfin mit leuchtend gelben Augen, gehörte trotz ihrer beeindruckenden Größe eher zu den Schüchternen und zog die Gesellschaft der Menschen der ihresgleichen vor.
Die zweijährige Ursa hatte als Welpe eine Beinverletzung erlitten und humpelte fortan. Menschen schien sie »zum Fressen gern« zu haben, denn wenn wir ins Gehege kamen, waren ihre Begrüßungen mehr als stürmisch.
Die sanfte Akili war genau das Gegenteil: still, unterwürfig und scheu, ebenso wie der elf Jahre alt Faust, ein grauer Wolf mit einem dunklen Streifen auf der Nase.
Die Geschwister Aurora und Kesho mochten Menschen, besonders Aurora. Mich überraschte zunächst ihr etwas »unwölfisches« Aussehen. Mit ihrer sehr hohen Stirn und der kurzen Nase hatte sie fast ein Babygesicht, das sich auch im Alter nicht auswuchs. Wir mussten Besuchern immer wieder erklären, dass dieser Wolf kein Welpe war. Einen wölfischen Schönheitswettbewerb würde sie nie gewinnen. Das machte sie jedoch mit ihrer Persönlichkeit wieder wett. Die sehr freundliche Wölfin verhalf manch ängstlichem Wolf-Park-Besucher zum Erlebnis seines Lebens, wenn sie sich an ihn schmiegte und sich streicheln ließ.
Wie die meisten Gehegewölfe lebten auch die Wolf-Park-Wölfe nicht in einem »natürlichen« Familienverband. In der Wildnis besteht eine Wolfsfamilie aus den Eltern, dem ein- bis zweijährigen Nachwuchs und einigen Onkeln und Tanten. Die Jungwölfe wandern meist ab, wenn sie erwachsen werden, um eigene Familien zu gründen. In einem Gehege dagegen kann der Nachwuchs nicht abwandern. Um Inzucht zu vermeiden, müssen so gelegentlich fremde Wölfe in die Gruppe eingebracht werden, was zu Stresssituationen führen kann. Die Wolf-Park-Wölfe leben wie alle Gehegewölfe in einer Klassengesellschaft. Jeder Einzelne kann die Hierarchie vom |30| Anführer zum Ausgestoßenen durchlaufen. Für den rangniedrigsten Wolf – »Omega-Wolf« genannt – konnte das Leben grausam sein. Er fungiert als eine Art Sündenbock. Ständig wird er von den anderen gemobbt. Geht das zu weit und besteht Gefahr, dass das Tier verletzt wird, nehmen es die Mitarbeiter aus der Gruppe heraus und bringen den Gemobbten in einem anderen Gehege unter.
Für uns war es wichtig, das individuelle Verhalten der einzelnen Wölfe zu erkennen und zu verstehen. Da die Wölfe von Hand aufgezogen worden waren, betrachteten sie uns als ihresgleichen und konnten entsprechend ruppig werden. Eine meiner wichtigsten Übungen war fortan: Wie bewege ich mich unter Wölfen, ohne dabei einen wichtigen Körperteil zu verlieren? Jetzt verstand ich
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