Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen
die ohne große Anstrengung einen ausgewachsenen Elch erlegen könnten. Als wäre ich wie Phoenix aus der Asche gestiegen, hatte ich meine Stärke, Selbstvertrauen und Zuversicht wieder gewonnen.
Gelegentlich legten die Wölfe es darauf an, uns Menschen zu provozieren. Wie unartige Kinder testeten sie ihre Grenzen. Ursa, die lahme Wölfin, hatte es auf mich abgesehen. Sie wollte offensichtlich ausprobieren, wie weit sie gehen konnte. Es fing harmlos an. Die Wölfin schnappte nach meinem Pullover und zog daran. Wehret den Anfängen, hatte Pat uns eingeschärft. Ich reagierte sofort und griff Ursa mit einem ruhigen, aber deutlichen »Nein« über die Schnauze und zog ihr den Pullover aus dem Maul. Die Wölfin beobachtete mich eine Weile und richtete dann ihren nächsten Versuch auf meine Hose. |33| Diesmal erwischte sie auch ein wenig Haut. Ich verstärkte meinen Schnauzgriff, bis die Wölfin quietschte und sich auf den Rücken warf. Jetzt waren die Grenzen geklärt, und Ursa bettelte wieder um Zuneigung.
Gutgemeinte Ratschläge von Besuchern hätten hier lebensgefährlich werden können. Ein junger Mann, der meine Bemühungen mit Ursa von der anderen Seite des Gehegezauns beobachtet hatte, rief mir zu: »Du musst dem Wolf zeigen, wer der Herr ist.« Er wusste offenbar sehr wenig von der Geschmeidigkeit und Kraft eines vierzig bis fünfzig Kilo schweren Wolfes. Als Zweibeiner und noch dazu als Frau hätte ich keine Chance, es bei einem Ringkampf mit Ursa aufzunehmen.
Doch Monty wusste wie immer Rat: »Ein kleines Ablenkungsmanöver reicht, wenn die Wölfe zu aufdringlich werden.« Der kleine Fotograf war der Einzige, der es sich erlauben durfte, Chinook über die Schulter zu werfen oder mit Faust auf dem Boden zu ringen – und das nur, weil die Wölfe es zuließen.
»Zwick sie in die empfindliche Nase. Das bringt sie garantiert zum Niesen. Wenn du willst, kannst du sie auch in die Nase beißen«, riet er mir mit einem Augenzwinkern.
Das ständige Testen der Wölfe lehrte mich, aufmerksamer zu werden. Betrat ich ein Gehege, musste ich auf der Hut sein und die Tiere sehr genau beobachten. Nur so konnte ich unerwünschtes Verhalten schon im Ansatz erkennen und stoppen. Mit jedem Tag schärften sich meine Sinne mehr, achtete ich auf jede Kleinigkeit.
Ich hatte ein paar Jahre zuvor damit begonnen, Achtsamkeitsübungen zu praktizieren. Sie sollten mir helfen, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ich begann mit den fünf Grundsinnen: Hören, Riechen, Fühlen, Sehen, Schmecken. Jeden Tag nahm ich mir einen anderen Sinn vor und achtete bewusst darauf, diesen Sinn zu schärfen. War ein »Hör-Tag«, dann blendete ich die anderen Sinne weitgehend aus und versuchte, |34| so viele Geräusche wie möglich wahrzunehmen. An einem »Hör-Tag« in die Stadt zu gehen, war eine Herausforderung bei all dem Lärm. Automotoren, Hupen, kreischende Bremsen, Menschen, die sich laut unterhielten, weinende Kinder, bellende Hunde, Kirchenglocken – alles schien auf mich einzustürzen. Es wurde besser, wenn es mir gelang, einzelne Geräusche herauszufiltern und mich auf sie zu konzentrieren statt auf alle auf einmal. Meist jedoch flüchtete ich nach kurzer Zeit in den Wald. Das Singen der Vögel, das Rauschen des Windes in den Blättern der Bäume, all das war Balsam für meine malträtierten Ohren. So in etwa mussten sich Erblindete fühlen.
Ähnlich verfuhr ich mit den anderen Sinnen. Beim »Schmecken« achtete ich bewusst darauf, was ich aß, beim »Riechen« musste ich einen großen Bogen um Raucher machen, und beim »Fühlen« lief ich einen ganzen Tag lang barfuß.
Eine neue Welt tat sich mir auf. Manchmal überwältigte sie mich mit all ihren Eindrücken. Dann tat es gut, wieder in die »normale« Welt zurückzukehren und die verschärften Sinne »auszuschalten«.
Jetzt bei den Wölfen nahm ich diese Übungen wieder auf. Ich wollte versuchen, herauszufinden, was sie, deren Leben noch ursprünglich war, sahen, fühlten, hörten, rochen oder schmeckten.
Lissi verfolgte amüsiert meine Versuche, zum »Tier« zu werden. »Welcher Sinn ist heute dran?«, fragte sie.
»Probier’s doch mal mit Geschmack«, grinste Monty und hielt mir eine geöffnete Dose Hundefutter hin, die er mit ein paar kräftigen Spritzern Tabasco gewürzt hatte. Als ich angewidert ablehnte, schaufelte er das Zeug selbst in sich hinein.
Ich mochte Monty. Er war sanft, fröhlich und immer ein wenig durchgeknallt. Die Wölfe beteten ihn an und
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