Wolfsliebe - Tochter der Wildnis
zu müssen, drehte ihr den Magen um. Tapfer biss sie die Zähne zusammen, nahm Nadel und Faden und entfachte ein kleines Feuer, in welches sie die Spitze der Nadel einige Zeit lang legte, dann spannte sie den Faden um die Nadel und näherte sich langsam der offenen Wunde.
Beim ersten Stich, den sie zitternd ansetzte, heulte Koon schmerzerfüllt auf und wollte sich aufrichten, doch er hatte bereits zu viel Blut verloren, um die nötige Kraft dafür aufzubringen.
Tikia nähte die Wunde mit sehr viel Sorgfalt und so sanft, wie es ihr nur möglich war. Bei jedem Stich, den sie ihrem Freund zufügen musste, brach sie in Tränen aus. Doch tapfer setzte sie einen Stich nach dem anderen. Selbst als Koon vor Schmerzen und Erschöpfung das Bewusstsein verlor, nähte sie weiter, bis die Wunde ganz zugenäht und der Blutstrom versiegt war.
Dann entfachte sie ein größeres Feuer, schmolz etwas Schnee, dessen Schmelzwasser sie in ihre kleine Tonschüssel goss, in die sie die wenigen ihr übrig gebliebenen Heilkräuter gab, um Koon das Mittel anschließend behutsam einzuflößen. IhreGroßmutter hatte diese Heilkräuter zu einem feinen Pulver verarbeitet und Tikia und ihrem Großvater stets einen kleinen Beutel davon mitgegeben.
Bereits nach kurzer Zeit hatte sich Koons Atmung stabilisiert, und Tikia wusste, dass sie auf eine baldige Genesung hoffen konnte. Mit viel Geduld flößte sie ihm auch den Rest der Mixtur ein und machte sich auf die Jagd.
Schon bald hatte sie einiges an Wild geschossen und kam zufrieden zum Felsen zurück.
Koon war inzwischen aufgewacht und erwartete sie schwach jaulend. Glücklich sank sie vor ihm auf die Knie und ließ sich von ihm das Gesicht ablecken.
Zufrieden bereitete sie das Abendessen zu und sah mit größter Erleichterung, dass Koon seinen Anteil bereits mit großem Appetit verschlang.
Tikia weigerte sich, die nächsten Tage an die Weiterreise zu denken, sie wartete geduldig, bis der Wolf wieder problemlos laufen konnte und seine Wunden vollständig verheilt waren. Er hatte einige Narben, aber keine gravierenden Schäden von dem Kampf mit seinen Artgenossen zurückbehalten. Selbst als Koon wieder vollständig genesen war, blieben sie noch einige Tage dort, um Kraft zu schöpfen.
Koon hatte seine Verspieltheit und Dynamik wiedererlangt, und seine Größe hatte ebenso wie seine Wildheit und Stärke zugenommen. Doch gegenüber Tikia war er immer noch der kleine zahme, verspielte Wolf von früher, der ihr jeden Tag stolz immer reichlicher werdende Beute beschaffte.
KAPITEL 8
Letzte Nacht in freier Natur
Nach gut drei Wochen, die Tikia genutzt hatte, um aus Holz und Flechten weitere Werkzeuge herzustellen, machten sich die beiden auf die Weiterreise.
Koon war zu einem stolzen Wolf herangereift und hatte es endgültig geschafft, die Wolfsmeute, die sich bedrohlich nah an ihre Fersen geheftet hatte, zu vertreiben.
Ohne Unterbrechung gingen sie den ganzen Weg bis zu dem Felsvorsprung zurück und hielten sich dann, wie der Großvater es ihr gesagt hatte, nach Norden.
Nach einem weiteren anstrengenden Tagesmarsch gelangten sie endlich an den See, den Tikias Großvater beschrieben hatte. Tikias Berechnungen zufolge musste die Stadt noch ungefähr einen Tagesmarsch entfernt liegen.
Nachdenklich zog sie das kleine Stück Holz heraus, in dem sie jeden Tag eine Markierung hinterlassen hatte, um sich die genaue Zeitspanne vom Verlassen ihres Zuhauses bis zur Ankunft in der Stadt vor Augen zu führen. Erstaunt erkannte sie, dass sie anstelle der geplanten drei Wochen ganze drei Monate gebraucht hatte.
»Entschuldige bitte die ewigen Verzögerungen, Großvater, doch hätte ich mich stets an deine Anweisungen gehalten, wäre ich zwarbereits in der Obhut deines Freundes, doch solch einen treuen Freund wie Koon hätte ich nicht an meiner Seite.«
Als ihr Leben noch den üblichen Tagesablauf kannte, hatte sie sich das Stadtleben stets in den schönsten Farben ausgemalt, doch nun, da dieses Leben, das sie sich so sehr gewünscht hatte, zum Greifen nah war, schmerzte ihr Herz bei dem Gedanken, alles zurückzulassen, was ihr Leben bis dahin bestimmt hatte. Aus Erschöpfung, aber auch um ein letztes Mal ihr Leben in der freien Natur zu genießen, legte sie eine etwas frühzeitigere Rast ein, die Koon freudig nutzte, um die Gegend zu erkundschaften und auf die Jagd zu gehen.
Tikia hatte längst keine Angst mehr, dass Koon weglaufen oder ihm etwas zustoßen könnte. Er war nun ein fast erwachsener Wolf
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