Das Grab der Legionen
...im Jahre 600 römischer Zeitrechnung
Westlich des Duro
Der Frühjahrsregen hatte den Lehmboden in Schlamm verwandelt, die Luft war naßkalt. Selten nur verließen die Iberer zu dieser Jahreszeit die schützende Behausung. Eine Erkältung kam so rasch wie die Sturmböen, das Fieber folgte schnell, und zur weisen Frau war es weit. Gerade in Frühjahr und Herbst gingen die Männer oft hinaus, um frische Gräber zu schaufeln.
Die weite Hochebene bot sich den Regenschauern wehrlos dar. Erst wenige grüne Spitzen durchbrachen das harte, vertrocknete Gras des Vorjahres. In den tief eingeschnittenen Tälern wuchsen Bäume und Sträucher und bildeten ein undurchdringliches Dickicht, aber oben auf den Plateaus sah man weit und breit nur Lehm, verdorrte Halme und viele Wasserlachen. Ausgebleichte Stämme und einzelne Büsche standen inmitten der grauen Landschaft.
Tausend kleine schmutzigbraune Bäche zerfraßen die Hänge und rissen Steine und Erde mit sich. Manchmal polterte ein größerer Klumpen talwärts.
Erste Sonnenstrahlen drangen durch die grauen Wolkenschichten.
In einigen Wochen würde der Frühjahrsregen vorbei sein, dann folgten Hitze und Trockenheit. Bis dahin aber goß es in Strömen.
Eine der ringsum steil abfallenden Hochflächen überragte die anderen. Auf ihr befand sich ein seit langem verdorrter Wacholderbaum. Blitze hatten seinen Stamm verkohlt, in vielen Sommern und Wintern war das Holz verwittert.
Neben dem töten Baum stand ein Mann und schaute sich aufmerksam um. Er mochte vierzig Jahre alt sein. Seine Gestalt war gedrungen, der Kopf von pechschwarzen Haaren bedeckt. Als der Mann sich bewegte, sah man, daß er seinen linken Fuß ein wenig nachzog, wohl als Folge einer Verletzung. Eine lange Hose, die bis zu den Knöcheln reichte und dort in Lederstiefeln steckte, und ein hemdartiges Obergewand mit langen Ärmeln wurden von einem breiten Ledergurt zusammengehalten, an dem ein kurzes, gekrümmtes Schwert befestigt war.
Mit aufmerksamem Blick betrachtete der Mann Büsche und Kuppen. Zuweilen ging er hastig ein paar Schritte weiter, um einen verdächtigen Punkt genauer zu untersuchen.
„Geschafft!" klang es hinter ihm.
Verblüfft drehte sich der Sucher um.
Ein Junge von etwa zehn Jahren tanzte jubelnd um den morschen Stamm. „Ich hab's geschafft!" wiederholte er.
„Bei Netos ! Das ist wirklich eine Überraschung!" Der Mann kratzte sich am Kopf. „Ich werde alt. Zwar bist du mein Sohn, aber mich so hereinzulegen... Na, warte!"
Der Junge nahm einen dicken Wollmantel auf und warf ihn über die Schultern. Während er durch die ausgespülten Rinnen gekrochen war, hatte ihn die Nässe nicht so sehr gestört. Jetzt aber spürte er Regen und Wind und fröstelte ein wenig.
„Gut hast du es gemacht. Bist erster geworden!" sagte der Vater stolz.
„Aber einziger ist er nicht!" Eine Mädchenstimme rief es, und wie aus dem Lehmboden gestampft, stand die Schwester des Jungen neben ihm. Sie griff ebenfalls nach ihrem Mantel. Auch sie freute sich, aber, etwas älter als der Bruder, zeigte sie die Freude nicht so offen.
„Eine schöne Bande seid ihr!" Der Vater schaute eilig in die Runde, damit nicht unversehens der dritte Wettkämpfer auftauchte. „Wo ist Rega?" fragte seine Tochter, während sie noch an der Bronzefibel nestelte, die den Mantel schloß. „Du hast sie erspäht, nicht wahr?"
„Habe ich. Sie wollte nicht hier oben warten und ging zu den Pferden voraus. Wenn ihr wollt, lauft auch hin. Aber daß keiner nach Hause reitet! Es ist gefährlich."
„Wir warten auf Maro und dich", sagte das Mädchen.
Der Junge lief bereits los, seine Schwester folgte ihm, und ihr Vater begann aufs Neue mit der Suche. Unrühmlich wäre es ihm erschienen, wenn er nicht wenigstens einen der beiden Jungen entdecken konnte. Außerdem tadelte er sich im Stillen, daß ein Zehnjähriger ihn zu überlisten vermochte, aber als Vater übersah man geflissentlich dies und das... Sicherlich würde aus Teto ein guter Krieger und ein gewandter Späher werden.
Inzwischen eilten die Geschwister den Lehmabhang hinunter. Kaum einen Pfeilschuß entfernt wuchs ein dichtes Gehölz verschiedenster Bäume und Sträucher. Hier warteten die Pferde, und irgendwo hier wartete auch Rega.
Maros Schwester hatte die beiden kommen sehen. Sie stand im Regenschatten einer alten Korkeiche. Mühelos erriet sie den Sieg der Geschwister beim Wettkampf, sie beneidete sie nicht. Warum auch? Schließlich war sie die jüngste der vier und am
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