Wolfsmale
Flight und ging los, um noch weitere Plastikbeutel zu holen. Rebus
beobachtete den Pathologen bei der Arbeit. In einer Hand hielt er einen kleinen
Kassettenrecorder, in den er von Zeit zu Zeit sprach. Isobel Penny hatte mittlerweile einen Block
hervorgeholt und zeichnete ein Bild von der Leiche.
»Die arme Frau war vermutlich bereits tot, bevor sie am Boden auftraf«, sagte Cousins. »Kaum
Anzeichen für Prellungen. Und die Hypostase scheint dem Gelände zu entsprechen. Ich würde sagen,
sie ist ganz bestimmt an dieser Stelle hier gestorben.«
Bis Flight mit den Plastikbeuteln zurückkam, hatte Cousins, wie Rebus mit kurzen Blicken
feststellen konnte, die Außen- und die Körpertemperatur gemessen. Der Pfad, auf dem sie alle
standen, war lang und ziemlich gerade. Der Mörder hätte sehr frühzeitig gesehen, wenn jemand
gekommen wäre. Andererseits waren ganz in der Nähe Häuser und eine Hauptstraße, sodass
irgendjemand sicher mögliche Hilferufe gehört hätte. Morgen würde eine Von-Haus-zu-Haus-Befragung
durchgeführt werden. Um die Leiche herum war der Pfad mit Müll übersät: rostige Getränkedosen,
leere Chipstüten, Papier von Süßigkeiten, zerrissene und verblasste Zeitungsseiten. Im Fluss
selbst schwamm noch mehr Müll. In diesem Moment tauchte der rote Griff eines Einkaufswagens aus
dem Wasser auf.
Erneut erschien ein Taucher. Sein Kopf und seine Schultern bewegten sich im Wasser auf und ab.
Auf der Brücke, wo die Hauptstraße den Fluss überquerte, hatte sich eine Gruppe von Menschen
versammelt und blickte zum Tatort herüber. Uniformierte Beamte forderten die Schaulustigen zum
Weitergehen auf und sperrten so viel an Gelände ab, wie sie nur konnten.
»Aufgrund der Spuren an den Beinen, Schmutz sowie einigen Aufschürfungen und Prellungen«, fuhr
die Stimme fort, »würde ich sagen, dass das Opfer mit dem Vorderleib auf den Boden gefallen ist,
beziehungsweise auf den Boden gestoßen oder hingelegt wurde. Erst später wurde sie umgedreht.«
Dr. Cousins' Stimme klang ruhig und desinteressiert. Rebus atmete ein paarmal tief durch und
beschloss, er hätte das Unvermeidliche nun lange genug hinausgezögert. Eigentlich war er nur
hierher gekommen, um guten Willen zu beweisen, um zu zeigen, dass er nicht zum Vergnügen in
London war. Aber wo er nun schon hier war, sollte er sich die Leiche wohl mal aus der Nähe
anschauen. Er kehrte dem Kanal den Rücken, den Froschmännern, den Schaulustigen und den
zahlreichen Polizeibeamten, die hinter der Absperrung standen. Er kehrte seinem Gepäck den
Rücken, das ganz allein am Ende des Pfades stand, und starrte auf die Leiche hinab.
Sie lag auf dem Rücken, die Arme an der Seite, die Beine parallel.
Strumpfhose und Schlüpfer waren bis zu den Knien heruntergezogen, doch ihre Blöße wurde von ihrem
Rock bedeckt, obwohl Rebus sehen konnte, dass er sich hinten hochgeschoben hatte. Der
Reißverschluss an ihrem bunten Anorak war offen, die Bluse aufgerissen. Der BH war allerdings
unbeschädigt. Sie hatte lange, glatte schwarze Haare und trug große Ringe in den Ohren. Ihr
Gesicht mochte vor ein paar Jahren noch ganz hübsch gewesen sein, doch das Leben hatte es schwer
gezeichnet, hatte seine Spuren hinterlassen. Der Mörder hatte ebenfalls Spuren hinterlassen. Ihr
Gesicht war blutverschmiert, und auch in den Haaren klebte Blut. Es stammte aus einem klaffenden
Loch im Hals der Frau. Aber auch unter dem Körper war Blut, das unter ihrem Rock hervorgeflossen
war.
»Wir drehen sie jetzt um«, sagte Dr. Cousins zu seinem Kassettenrecorder. Das tat er auch mit
Flights Hilfe, dann hob er das Haar der Frau im Nacken hoch. »Stichwunde«, sagte er in den
Kassettenrecorder, »passt zu der größeren Wunde vorn am Hals. Eine Austrittswunde, würde ich
sagen.«
Doch Rebus hörte dem Arzt nicht mehr richtig zu. Er starrte entsetzt auf die Stelle, an der der
Rock der Frau hochgeschoben war. Da war Blut, sehr viel Blut, es klebte ihr am Rücken, am Gesäß
und oben an den Beinen. Aus den Berichten in seiner Aktentasche wusste er, woher dieses Blut
stammte, doch das machte den Anblick nicht erträglicher, den kalten blanken Horror.
Er fing wieder an, tief durchzuatmen. Er hatte sich noch nie an einem Mordschauplatz übergeben
und wollte nicht ausgerechnet jetzt damit anfangen.
»Keinen Scheiß«, hatte sein Boss ihm erklärt. Es war eine Frage des Stolzes. Jedenfalls wusste
Rebus jetzt, dass er aus einem sehr ernsten Grund in London war. Hier ging
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