Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Bugstrahlruder ein, um in den Kanal zu manövrieren. Das Boot stampfte durch das tiefer werdende Wasser, schweigend beobachtet von einer Kolonie grauer Reiher in den Schatten entlang der grünen morastigen Küste. Die Strahlen der aufgehenden Sonne drangen durch die verkrüppelten Eichen und Weißkiefern. Goldene Sprenkel glitzerten auf dem Wasser, das sich vor ihnen ausdehnte.
Die Toten blieben nie für immer verborgen. Die Erde entledigte sich ihrer, so oder so. Sie waren gnadenlos in ihrem Bedürfnis, gefunden zu werden. Das Tibetische Totenbuch beschrieb die rastlosen Geister der Verstorbenen, die von unerträglicher Hitze, Hunger, Durst, Erschöpfung und Angst gepeinigt wurden. Ihr Reich kam ihm vertraut vor; im Verlauf seiner Karriere, in der er mit der Aufklärung von Kapitalverbrechen befasst war, gelangte er zu der Überzeugung, dass die Toten irgendwie die Neigung besaßen, die Lebenden so lange heimzusuchen, bis man ihre Leichen fand.
Mara war noch nicht gefunden worden.
Nach all der Arbeit, die er in diesen Fall investiert hatte, hätte er es seiner Meinung nach spüren müssen – tief in seinem Inneren, wenn sie tot gewesen wäre. Mara Jameson war ihm unter die Haut gegangen, hatte einen festen Platz in seinen Gedanken, seinem Herzen eingenommen. Sie begleitete ihn Tag für Tag, und er wusste, er würde sich nicht eher von ihr lösen können, bis er herausgefunden hatte, was mit ihr geschehen war. Wo sie steckte …
Die Vögel, die vor ihm herflogen, waren damit beschäftigt, den Weg eines Blaufischschwarms zu markieren, unmittelbar vor der roten Klappboje. Angelo sorgte dafür, dass die Angeln einsatzbereit waren. Flora stand an Patricks Seite; ihr Körper presste sich gegen sein Bein, als er Gas gab und auf den Fischschwarm zuhielt, wobei er vergeblich versuchte, den Gedanken zu entfliehen, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgten.
Er wusste, er würde ihr nach seiner Rückkehr einen Brief schreiben, wie jedes Jahr.
Aha, es ging also wieder los. Wie jedes Jahr um diese Zeit. Sobald sich die letzten Spuren der langen, für Neu-England typischen Kälteperiode aus der Luft verflüchtigt hatten, war es so weit. Mit der gleichen Regelmäßigkeit, wie die Vögel von ihrer Winterreise zurückkehrten, die Rosen erblühten, die Gärten in sämtlichen Farben prangten und die Sommersonnenwende mit dem längsten Tag des Jahres nahte …
Maeve Jameson stand in ihrem Garten und beschnitt die Rosenbüsche. Sie trug einen breitkrempigen Strohhut, eine Hemdbluse aus weißem Leinen und Gartenhandschuhe in leuchtendem Pink. Trotz des bedeckten Himmels hatte sie einen Sonnenschutz mit hohem Lichtschutzfaktor aufgetragen. In ihrer Kindheit hatte man nichts über die Hautschäden gewusst, die durch die Sonneneinwirkung entstanden – damals hieß es, die Sonne besäße große Heilkraft und je mehr man abbekam, desto besser.
Doch letztes Jahr hatte man bei ihr ein kleines Melanom in der Wange entfernen müssen, und seither war sie entschlossen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um dem Hautkrebs Paroli zu bieten, auf ihre Gesundheit zu achten und am Leben zu bleiben, bis sie die ganze Wahrheit kannte.
Sie war stets darauf bedacht gewesen, ihre Enkelin mit Sonnenschutzmittel einzureiben. Mara hatte eine Haut wie Porzellan – typisch irisch, hell, mit Sommersprossen. Ihre Eltern – Maras Eltern – waren bei einem aufsehenerregenden Fährunglück ums Leben gekommen, während einer Reise in den Westen Irlands, zu der Heimatstadt von Maras Mutter.
Maeve hatte es übernommen, ihr einziges Kind, ihre Enkeltochter, großzuziehen. Jedes Mal, wenn sie Mara betrachtete, sah sie ihren Sohn Billy vor sich; sie liebte Mara unsäglich, mehr als die Sterne am Firmament, mehr als alles in der Welt. Sie war ein direktes Bindeglied zu ihrem heißgeliebten Sohn, und deshalb rieb sie Mara gewissenhaft mit Sonnenlotion ein, bevor sie ihr erlaubte, an den Strand zu gehen.
»Du hast die Seele deines Vaters in deinen blauen Augen«, hatte Maeve oft dabei gesagt.
»Und meiner Mutter?«
»Ja, Annas auch.« Sie hatte ihre irische Schwiegertochter geliebt, als wäre sie ihr eigenes Kind. Aber es ließ sich nicht leugnen, dass Mara ganz nach Billy kam – in Maeves Augen. So war es nun einmal, sie konnte nichts dagegen tun.
Nun stand sie also in ihrem Rosengarten und knipste die verwelkten Blüten von den Rosenbüschen. Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, die dreiblättrigen Triebe zu finden, wurde aber von den
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