Wuensch dir was
gelähmt vor Angst. Ich war überzeugt, jeder auf der Gala könne meine Unterhaltung mit Russell mit anhören, also lachte ich zurückhaltend und lehnte ab. Ich bereute es den Rest meines Lebens. Russell starb vor ein paar Jahren (das böse Wort mit K , an der Bauchspeicheldrüse). Ich schickte gleich eine Spende an das Philadelphia Museum of Art, als ich die Todesanzeige im Philadelphia Inquirer sah, quasi zum Andenken an ihn, und um ihm auf meine Weise zu danken. Ich hatte Russell seit gut zwanzig Jahren nicht gesehen, aber ich werde nie vergessen, wie schön ich mich seinetwegen an diesem Abend fühlte.
Das war noch etwas, was mich wurmte – dass ich keine Ahnung hatte, wie attraktiv ich war. Wenn ich mir später Fotos von damals ansah … Gott, was war ich hübsch. Natürlich hatte man es mir von allen Seiten versichert, aber ich glaubte es nie. Ich wünschte, ich hätte mir mein Aussehen mehr zunutze gemacht. Damals hatte ich für Howard gut ausgesehen. Wenn ich zum Friseur ging und auf mein Gewicht achtete, dann nur für meinen dicken, kahlköpfigen Ehemann, der sich hinter meinem Rücken mit anderen Frauen vergnügte. Wenn ich ein neues Kleid kaufte oder ein neues Parfüm, dann nicht zu meinem eigenen Vergnügen, sondern um von Howard ein Kompliment einzuheimsen. Ich hätte es für mich tun sollen, um mich gut zu fühlen.
Kurz gesagt, all diese Umstände – meine dürftige
Ausbildung, mein monogames Liebesleben, meine Ahnungslosigkeit in Bezug auf die Schädlichkeit der Sonnenstrahlung und dazu die Tatsache, dass mir damals nicht bewusst gewesen war, wie schön ich war -, all das zusammengenommen war der Grund dafür, weshalb ich meine Enkelin Lucy beneidete. Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich, und sie lebte in einer großartigen Zeit. Immer wieder kam ich zu diesem Schluss, während rund um mich mein fünfundsiebzigster Geburtstag gefeiert wurde: dass ich zum falschen Zeitpunkt zur Welt gekommen war. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als Lucy sein zu können.
Sie hätten sie sehen sollen, meine Lucy, auf meiner Party. Sie besaß eines dieser winzigen Telefone, mit denen man Nachrichten empfangen und verschicken kann, und damit beriet sie sich den ganzen Abend mit ihren Freundinnen, wohin sie nach meiner Geburtstagsparty noch ausgehen sollten.
»Immer dieses Handy«, nörgelte Barbara in einem fort, was so viel hieß wie: »Lucy, wir feiern hier den Geburtstag deiner Großmutter. Könntest du dieses Ding mal zwei Minuten weglegen und mit deiner Großmutter anstoßen?«
Mir machte es nicht das Geringste aus, im Gegenteil. Mich hätte bloß interessiert, mit wem sich Lucy wohl verabredete und wohin sie gehen würde.
Ich blinzelte ihr verschwörerisch zu.
Und wie sie angezogen war! Sie trug ein Minikleid und dazu hohe Schuhe mit Plateausohlen und eine
Jeansjacke. »Wie eine Nutte«, meckerte Barbara den ganzen Abend. Ich fand, Lucy sah aus wie ein Filmstar. Was hätte ich darum gegeben, mich so anziehen zu können! Lucy hatte eine erstklassige Figur, und sie war tipptopp in Form – ganz anders als ihre Mutter, die mit ihren breiten Hüften und dem üppigen Busen äußerlich eher nach ihrem Vater und dessen Familie kam. Barbara war ständig auf Diät. Allerdings hatte ich den Verdacht, dass sie die meiste Zeit schummelte. Lucy und ich dagegen, wir konnten essen, was wir wollten. Natürlich achtete auch ich auf meine Figur, aber mein Stoffwechsel wurde damit fertig, wenn ich gelegentlich über die Stränge schlug, und bei Lucy war es nicht anders. Manchmal aßen wir zum Abendbrot einfach bloß Eis. Erst vorige Woche hatten wir uns einen großen Becher von Ben & Jerry’s besorgt (die Sorte mit Plätzchenteig und Schokostückchen) und waren darüber hergefallen wie zwei ausgehungerte Hyänen. Lucy sah aus wie ich, als ich in ihrem Alter war. Ich hatte immer schlanke Beine und einen knackigen Po gehabt, genau wie sie jetzt. Alle hatten das gesagt. Doch irgendwann … Ich wusste auch nicht, wie das geschehen konnte, aber mein Körper war … erschlafft . Mittlerweile sah ich aus wie … wie dieses berühmte Bild mit den Uhren von Dalí. An allen Ecken und Enden baumelte, pendelte und hing etwas. Ich war schlank, aber schlaff. Ach, was hatte ich damals für einen hübschen, knackigen Po! Er fehlte mir sehr, mein knackiger Po. Er kam mir irgendwann zwischen
dem vierzigsten und dem sechzigsten Lebensjahr abhanden, und ich trauerte ihm immer noch nach. (Ach ja, an dieser Stelle ein Tipp für die
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