Wünsche
links, wie um dem Turm oder einer weiteren Erwähnung des Ortsnamen Dünkirchen auszuweichen.
Was war das noch mit den Muscheln?, fragt Friedrich Wünsche trotzdem, du wolltest doch auf der Rückfahrt welche mitnehmen?
Jo auf dem Beifahrersitz dreht sich zu Wünsche um. Als sei durch seine Bewegung das Gleichgewicht im Wagen außer Kontrolle geraten, schlingert der Volvo plötzlich. Ich will das so nicht, sagt Karatsch entschuldigend, alles das will ich so nicht. Er arbeitet am Lenkrad, als führe er Autoscooter, so lange und so wild, bis er auf der Gegenspur landet, die eigentlich von Dünkirchen fort und wieder zum Fährhafen führt.
Stopp, wir sind nicht mehr in England! Jo greift ins Lenkrad.
Karatschs Gesicht klebt fast hinter der Scheibe, während er stur auf der Gegenspur weiterfährt.
Du taugst als Autofahrer so wenig wie als Vater, rutscht es ihm härter heraus, als er will. Wieder greift er nach dem Lenker, den Karatsch umklammert, als sei er sein Rettungsring. Die Finger werden zu Brezeln, aber sie werden eher zerbrechen und in seinen Schoß krümeln, als dass er das Steuer loslässt. Das sieht Jo genau. Die Straße vor ihnen scheint plötzlich eine kaum zu bändigende eigene Strömung zu besitzen, die sich auch ohne Karatschs Zutun beschleunigt.
Bitte bremsen, sagt Friedrich Wünsche da leise und legt von hinten Karatsch beide Hände auf den Kopf. Bitte, Franz-Josef, halt an!
Dass jemand sich gerade jetzt an seinen richtigen Namen erinnert, scheint Karatsch wie ein Schlag zu treffen. Er ruckt das Steuer noch ein Stück weiter nach links und lässt den Wagen am falschen Straßenrand ausrollen. Sie steigen aus. Der Volvo hängt schräg im Graben. Bis zum Horizont ist die Landschaft kalkweiß, mit vereinzelten Baubaracken aus Blech, die sich an einer schmalen, dürftig grauen Grasnarbe orientieren wie an einem ausgetrockneten Fluss. Von irgendwoher schlägt dreimal eine Kirchturmuhr. Es ist Viertel vor zwei. Mandschurei, sagt Karatsch und zeigt auf die ungefähre Landschaft, die ihn umgibt, um sich gleich darauf über eine Ansammlung straßenverstaubter, aber zäher Blumen zu krümmen. Ein paar zartlilafarbene sind auch dabei. Er kotzt auf Herbstzeitlose, denkt Jo und geht einige Schritte beiseite, damit Karatsch sich nicht schämen muss. Als er sich wieder aufrichtet und dem Sohn folgen will, schleppt deutlich die eine Hälfte des Körpers die andere hinter sich her. Ein Riss scheint durch den Körper zu gehen, doch empfindet Karatsch offenbar keinen Schmerz. Er lächelt sein linkslastiges Lächeln, das noch schiefer ist als sonst. Dann fällt der Unterkiefer herunter, als gehöre er nicht mehr zum Gesicht. Wie blöd das aussieht. Trotzdem scheint Karatsch angestrengt nachzudenken und im Schnelldurchlauf fast jede Begebenheit aus fast jeder Phase seines Lebens abzurufen, aber nicht, weil die Erinnerung daran ihm so viel bedeutet, sondern weil es ihm offenbar unmöglich erscheint, dem Ganzen noch eine Bedeutung abzugewinnen.
Lächle mich mal an, Karatsch, sagt Friedrich Wünsche und stößt Jo unauffällig in die Seite.
Jetzt lächeln? Karatsch hebt den linken Arm, um ihm einen Vogel zu zeigen.
Lächle, bitte!
Die Farbe von Wut steigt in Karatschs Gesicht, aber kein Lächeln.
Geht nicht mit dem Lächeln, oder?
Wieder zeigt Karatsch ihm mit links einen Vogel.
Kannst du mir auch mit rechts einen Vogel zeigen?
Ein Schultergelenk zuckt. Das Gesicht auch, und mit dem Ausdruck von maßloser Enttäuschung friert es ein.
Geht nicht, sagt Karatsch, Vogel geht nicht.
Was hast du denn?
Habe Schulter, sagt Karatsch und hebt ein kleines Stück den linken Unterarm. Ein Stück Holz, das nicht zu ihm gehört, und an dessen Ende eine Hand zittert.
Sprich mir mal nach, sagt Friedrich Wünsche, sag, ich benötige Hilfe.
Das konnte er doch noch nie sagen, sagt Jo, quälen Sie ihn doch nicht so.
Belötige nie niemands, sagt Karatsch mit einer Zunge, die die Wörter nur noch unvollständig hinter sich her schleppt.
Wir müssen sofort ins Krankenhaus, sagt Friedrich Wünsche. Er legt Karatsch die Hand auf den Kopf und drückt ihn mit der Geste eines Polizisten, der soeben eine Verhaftung vorgenommen hat, auf die Rückbank des Volvos, bevor er sich neben ihn setzt.
Was?, heult Karatsch und macht ein wildes Gesicht und zerrt am Gurt. Endlich hat auch Jo gemerkt, dass man in diesen Zustand nicht einfach weitere Fragen werfen kann wie Steine. Er hilft Karatsch beim Anschnallen, der danach fröhlich seinen Gurt
Weitere Kostenlose Bücher