Wünsche
in Kennedys Wohnzimmer die Zähne putzte und auf sein Unterhemd und danach auf den Boden kleckerte dabei. Kennedy hat sich auf das Cordsofa gelegt und eine graue Armeedecke über sich ausgebreitet. Nur Jacke und Schuhe hat er zum Schlafen ausgezogen. Das Licht einer kleinen kürbisfarbenen Lampe auf dem Kaminsims lässt sein Gesicht warm aufscheinen. Falls sie ihn bei der Metropolitan Police nehmen, sagt er, wird er das Tattoo am Hals weglasern lassen. Er fährt sich mit der Hand über die Schlagader, schließt dabei die Augen und hält sie auch geschlossen.
Geh schlafen, Junge, sagt er.
In Jos Rücken stapelt sich schmutziges Geschirr in der Spüle. Der Topf, in dem Bolognesesoße klebt, weicht noch immer ein. Die Tasse mit dem Aufdruck von Lady Di und Prinz Charles steht umgedreht auf der Abtropfe. Mit einem Mal fällt es ihm leicht, sich Vera vorzustellen, hier in Kennedys Haus, in der Bancroft Road, in dieser Nachbarschaft von vierstöckigen Sozialbauwohnungen, wo gegenüber Kinder in verwaschenen Schlafanzügen unter einem gleichgültigen Vierundzwanzig-Stunden-Streulicht auf den Außenfluren spielen. Jo schließt die Augen. Er verjagt Karatsch aus dem Doppelbett und Wünsche gleich mit aus dem Kinderzimmer. Kennedy bekommt noch eine Chance. Soeben haben Mutter und er die Schlafzimmertür zwischen sich und ihrem einzigen Gast Jo geschlossen. Sie fangen an zu streiten, während er selber jetzt unter Kennedys grauer Armeedecke liegt und mithört. Was könnte Veras letzter Blick gemeint haben, bevor sie die Tür zuzog? Hol mich hier raus? Oder lass mich bloß hier? Oder: Ich bin eine treue Seele, aber leider nicht monogam? Die beiden hinter der Tür sind mit einem Mal ganz still. Nach wenigen Herzschlägen bekommt die Stille einen Rhythmus. Sie schlafen miteinander, was er auf dem Cordsofa als Tatsache nimmt. Nicht als Sensation. Ganz still sind sie miteinander, als dürften vor allem die Familienfotos auf dem Kaminsims nichts davon mitbekommen. Als müssten sie ihre Leben außerhalb dieser Wohnung sauber voneinander getrennt halten. Dann öffnet sich die Tür wieder, und Mutter oder die Silhouette ihrer möglichen Anwesenheit kommt aus dem Schlafzimmer und läuft an Sohn, Sofa und Armeedecke vorbei zur Küche. Er folgt. Ohne ihn anzuschauen sagt sie, in wenigen Monaten wird wieder Silvester sein. Sie zündet sich eine Zigarette an und bläst den Rauch in Ringen aus. Wenige Monate später werden milchweiß die Obstbäume blühen, sagt sie, hier und überall und auch hinter Karatschs Bungalow. Dann kommt der Sommer, dann Herbst, gefolgt vom milchweißen Wirbel des Winters. Und dann?, fragt sie. Sie dreht ihm das Gesicht zu. Kommt dann die Zukunft oder nur die nächste Jahreszeit? Sie kreuzt die Arme. Wenn man glücklich ist, sagt sie, weiß man oft nicht, dass man glücklich ist. Aber hinterher weiß man es. Doch wenn man traurig ist, weiß man immer genau, wie traurig man ist, oder, Sohn?
12.
Sehr früh am nächsten Morgen wacht Vera im Wohnzimmer auf Karatschs Sitzgarnitur auf. Draußen ist es noch fast dunkel. Aber nicht so dunkel, dass man einen schwarzen nicht von einem weißen Faden unterscheiden könnte, würde Meret jetzt sagen.
Meret hat sie gestern Abend in Hannes’ Film gesehen, wie sie auf die kleine Tür neben dem Personalaufgang von Haus Wünsche zulief. Mein Gott, was für ein Kleid sie trug, aber es stand ihr. Als sie die Tür öffnen wollte, klemmte die. Meret warf sich mit der bloßen Schulter dagegen, bis endlich der Blick frei war auf den Park mit den Kastanien im Hintergrund, zwei große Stehaschenbecher im Vordergrund. Auf der Schwelle ging sie in die Knie. Ein geladenes und entsichertes Bild. Ihre bloße Haut im tiefen Rückenausschnitt war so weiß, als wäre dort Schnee auf Schnee gefallen. Wovor hast du eigentlich Angst?, fragte in dem Moment Hannes’ Stimme von hinter der Kamera. Angst? So viel auf einmal war in Merets Haltung gewesen, wie sie da hockte, so viel Anmut, Skepsis, so viel Abwehr, Zerbrechlichkeit und bereits Zerbrochensein. Die Kamera schaute ihr zu. Aber was sah sie eigentlich? Vor Meret lag ein Tempo-Tuch. Sie hob es an, darunter war eine tote Amsel. Meret drehte das Gesicht zur Kamera, aber blieb in der Hocke. Sie sagte, die allermeiste Angst habe ich vor den Beinen von toten Vögeln. Sie ließ das Tempo-Tuch wieder fallen und wischte sich die Hand am schwarzen Kleid ab. In dem Moment fing ihr Gesicht an zu flimmern, fast brannte es. Die Ohren wanderten nach vorn,
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