Wurst und Wahn
sei.
»Neue Vorschriften«, erklärte er achselzuckend. »Der Anblick von toten Tieren darf Minderjährigen und Vegetariern nicht mehr zugemutet werden. Aber es traut sich ohnehin keiner mehr, so was zu kaufen, und mit diesen abgetrennten Verkaufsbereichen wirdes bestimmt nur noch schlimmer, da traut sich doch kaum jemand rein. Fleisch verkaufen wir praktisch nur noch als Tierfutter. Eigentlich schade drum.«
Hätten Sie mich vor dieser Zeit gefragt, ob ich gern Fleisch esse oder nicht, ich hätte es Ihnen nicht sagen können, so wie ich Ihnen nicht sagen kann, ob ich gern atme oder nicht. Beides war für mich eine Selbstverständlichkeit, etwas, das ich täglich mehrmals tat und nie hinterfragte. Ich weiß seitdem, dass ich gern Fleisch esse. Wurst, Buletten, Schnitzel, Koteletts, Filets, Gehacktes, Geschnetzeltes und Geselchtes, Muskelfleisch und Innereien – alles schmeckt mir. Ich habe es gern, wenn der Geruch von Bratenfett schwer in der Wohnung liegt, weil ein Stück Kurzbratfleisch in der Pfanne liegt, ich schwärme für den Duft von Schweinebraten aus der heißen Backröhre.
Ich habe Kindheitserinnerungen daran, dass mein Vater alle paar Wochen samstags saure Nierchen machte. Den ganzen Freitag über wässerte er die Nieren und schmorte sie in Vorfreude pfeifend am nächsten Tag mit Zwiebeln und saurer Sahne. Dazu machte er Salzkartoffeln und Krautsalat. Obwohl an diesen Tagen ein strenger Uringeruch in der Wohnung lag, ist meine Erinnerung daran schön und sonnig.
Nein, ich musste mir da nichts vormachen: Ich aß gern Fleisch.
Es begann eine anstrengende Zeit. In unserer Gegend gab es frei verfügbares Fleisch überhaupt nur noch im Imbiss auf dem Mittelstreifen, der im Volksmund schon immer liebevoll Die Fettluke hieß. Weil im Rahmen der Ausnahmeregelung für Kleinunternehmer Ein-Personen-Betriebe ja von den strengsten Auflagen befreit sind, aber das muss ich Ihnen nicht erklären, Herr Kommissar. Wenn ich da stand und im Abgasgeruch der vorbeifahrenden Autos meine Currywurst aß, fühlte ich mich wie ein Tier im Zoo, ausgestellt auf einer künstlich errichteten Insel den Blicken der Besucher ausgeliefert. Während der Rotphase starrten mich die Fußgänger ausdruckslos an, durften sie überqueren, schauten sie kaum zu mir herüber, bei dem einen oder anderen schien ich ein angedeutetes Kopfschütteln zu erkennen. Ich konnte mir da nichts vormachen: Fleisch essen hieß nun definitiv gegen den Strom zu schwimmen.
Der Verkäufer im Supermarkt hatte recht behalten, praktisch niemand traute sich in den separaten Fleischverkaufsbereich. Entspannt konnte man Fleisch nur noch im schlimmen Viertel unserer Stadt kaufen. Hier gab es sie noch: die Grillteller in denRestaurants, das Lamm vom Rost, die mit Hackfleisch gefüllten Blätterteigstücke beim Bäcker, das Formfleisch am Spieß. Allerdings lungerten da überall mediterran aussehende Gestalten herum: Kopftuchmädchen, Drogendealer, Wasserpfeifenraucher, Klappmesserschwinger. So gern ich mir dort ein paar Scheiben Lamm geholt hätte, waren mir die Ausflüge in diese brandgefährliche Zone doch zu riskant, denn man wusste nie, ob man dort Fleisch vom Spieß bekommen oder als Fleisch auf dem Spieß enden würde.
Wer Fleisch kaufen wollte, hatte also nur die Wahl zwischen sozialem und tatsächlichem Harakiri. So weit war es gekommen.
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Anfang vom Ende
Von der Arbeit organisierte Feiern habe ich noch nie gemocht. Sinn einer Feier ist es doch abzuschalten und die Sorgen und Nöte des Alltags zu vergessen. Warum also sollte ich ausgerechnet mit meinen Arbeitskollegen feiern, die ja die Sorgen und Nöte überhaupt erst in meinen Alltag brachten? Das wäre ja so, als würde man einen Urlaub im Büro buchen. Aber man muss ja. Nein, ich möchte nicht vom Thema ablenken, Herr Kommissar, sofort komme ich wieder zur Sache. Es ist nur so, dass der Tag der Weihnachtsfeier der Tag war, an dem ich auf den Zug sprang, besser gesagt springen musste, der mich auf gerader Strecke ohne Zwischenhalt direkt ins Verderben beförderte.
Am Morgen der Feier hatte ich mir etwas angezogen, das einerseits ordentlich genug für die Arbeit aussah, andererseits salopp genug für die anschließende Weihnachtsfeier war: violettes Hemd, gebügelte Hose aus Leinenstoff, die gerade keine Jeans mehr war, und eine Krawatte mit lustigen Weihnachtsmännern. So gerüstet sah ich dem verlorenen Abend gelassen entgegen.
Die Weihnachtsfeier fand im »gleichen Italiener« statt. Das ist
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