Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wurst und Wahn

Wurst und Wahn

Titel: Wurst und Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Hein
Vom Netzwerk:
zeigte, wie ich mitten in einem Satz verstumme, mir der Unterkiefer herunterfällt und ich Worte wie »Hackbraten« und »Leber« zu nuscheln beginne. Die Augen weit aufgerissen, laufe ich in der Wohnung herum und stecke mir wie ein Kleinkind alles Mögliche in den Mund, kaue darauf herum. Nach zwei Minuten ist der Spuk vorbei und ebenso unvermittelt wie der Anfall angefangen hat, spreche ich den davor begonnenen Satz zu Ende.
    Dieses Video war ein Schock. Der Allgemeinarzt überwies mich zum Nervenarzt, der ein EEG schrieb und mich zum Kopfröntgen überwies. Aber insgesamt, sagte er, sähe es ihm nicht nach etwas Neurologischem aus. Das ist irgendwie typisch für Ärzte. Du gehst zu einem Facharzt und der sagt nach tausend Untersuchungen, dass das nichts für den Facharzt ist. Das EEG war normal. Meine Aussetzer nannte er dissoziative Fuguen, was so etwas ist wie Augenblinzeln – nur vom Gehirn. Gerade bei Neuvegetariern sei das ganz normal. Die unterdrückten Fleischgedanken würden an die Oberfläche drängen und umso unkontrollierter einschießen, je stärker ich sie zuzudecken versuchte. Nach ein paar Monaten würde es besser werden, weil mein Körper danndurch die vegetarische Ernährung nicht mehr die Kraft für solche Gehirnleistungen hätte.
    Nicht, dass ich etwas vor Ihnen geheim halten will, Herr Kommissar, aber an die nachfolgende Zeit habe ich nur wenige klare Erinnerungen. Ich weiß noch, wie ich mich eines Tages im Norden der Stadt wiederfand, weitab von Arbeit und Wohnung, meine Hände an einem roten Fabriktor festgekrallt. Verdutzt schaute ich mich um. Wie war ich nur hierher gekommen? Offensichtlich hatten mich wieder besonders schlimme Fleischgedanken heimgesucht, die in den letzten Wochen immer intensiver geworden waren. Mittlerweile kam ich dafür kaum noch zu Bewusstsein, teilweise kam ich erst Stunden später wieder zu mir, im Mund einen Kuschelbären. Ich schaute mich um, in der Gegend war ich noch nie zuvor gewesen. Industriebauten, Einkaufszentren, eine Schnellstraße zerschnitt die Landschaft nach Norden.
    Das Eisentor setzte sich plötzlich quietschend in Bewegung. Erschrocken sprang ich zurück. Das Tor öffnete sich für einen Lastwagen, auf dem eine Ladung Schweine quiekte. »Fleisch- und Wurstwaren Europa« stand über dem Werkstor – von einem Werbeplakat sah mich ein rosa Schwein an, das unter einem hochgezogenen Dirndl einen riesigen rosaSchinken zum Vorschein brachte. Es zwinkerte dem Betrachter aufreizend über die Schulter zu. Mir kam es vor, als wolle es sagen: »Nimm mich – ich will es und Du willst es doch auch!«
    Entsetzt wich ich zurück und wollte mich auf den Heimweg machen. Doch mein animalischer Instinkt hatte mich vor die Tore der Stadt geführt, meinem Intellekt fiel es dagegen schwer, mich wieder in meine Gegend zurückzubringen, in eine Welt, in der ich unterbewusst offenbar nicht mehr sein wollte. Mein Kopf sagte, dort gehörst du hin, mein Bauch wusste, dass das nicht die Wahrheit war.
    Ich kam irgendwann in der Nacht vollkommen entkräftet nach Hause. Meine Frau kochte mir noch eine kleine Wurstsuppe, damit ich wieder zu Kräften käme, eine Tofu-Wurstsuppe natürlich. Aber mein Körper konnte sie einfach nicht bei sich behalten, ich rannte zur Toilette, wo ich irgendwann vollkommen erschöpft mit dem Kopf auf der Toilettenbrille einschlief.
    Es reichte langsam! Am nächsten Morgen schrieb ich Tom Tofu, dass ich mich dringend mit ihm treffen müsse. Ich wüsste nicht mehr, wie es weitergehen solle. Tom Tofu war für mich die Verkörperung des Vegetarismus und somit die Möglichkeit, jemanden zur Verantwortung zu ziehen, von Angesicht zu Angesicht meine Empörung auszudrücken. Er schrieb mir wieder sofort zurück, wir verabredeten uns für den Nachmittag in einem indischen Café.
    Für einen Vegetarier sah Tofu erstaunlich gut genährt und entspannt aus. Er lächelte mich freundlich an und bestellte uns beiden etwas, das er Chai Latte nannte und von dem ich mit Sicherheit nur sagen kann, dass es heiß und flüssig war. Ich erzählte Tom Tofu, wie ich Vegetarier geworden war, wie es mir bisher ergangen war und dass ich jetzt das Gefühl hatte, so könne es nicht mehr weitergehen. Ich berichtete von meinen schrecklichen epilepsieartigen Aussetzern, die ich bei der bloßen Erwähnung eines Fleischgerichtes bekäme, aus denen ich oft erst nach ein, zwei Stunden wieder erwachte. Natürlich erzählte ich ihm auch von meinem unfreiwilligen Ausflug vor das Werkstor

Weitere Kostenlose Bücher