Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Xeelee 1: Das Floss

Xeelee 1: Das Floss

Titel: Xeelee 1: Das Floss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
Vom Netzwerk:
»Das Komitee will mit dir reden«, meldete er mit dünner Stimme. »Komm zur Plattform. Sofort!«
    Pallis schnitt sich eine Scheibe Fleischsurrogat ab. »Ich will nichts mit deinem verdammten Komitee zu tun haben, Junge.«
    Boon kratzte sich unsicher in der Armbeuge. »Aber du mußt. Das Komitee… es ist ein Befehl…«
    »Gut, Bursche, du bist deinen Spruch losgeworden«, schnauzte Pallis ihn an. »Jetzt verschwinde aus meinem Baum!«
    »Kann ich ihnen ausrichten, daß du kommst?«
    Anstatt zu antworten, fuhr Pallis mit der Fingerspitze über die Klinge seines Messers.
    Boon zog sich durch den Laubvorhang zurück.
    Pallis versenkte die Spitze des Messers im Baumstamm, wischte sich die Hände an einem vertrockneten Blatt ab und schob sich zum Rand des Baumes. Er legte sich mit dem Gesicht nach unten mitten in die aromatischen Blätter und nutzte die gemessene Rotation des Baumes zu einem Rundblick über das Floß.
    Unter seiner Kanzel aus Bäumen stellte sich ihm das Deck als ein düsterer Ort dar: Aus den Gebäuderuinen stiegen noch immer Rauchfäden, und Pallis bemerkte dunkle Abschnitte in den breiten, mit Kabeln gesäumten Straßen. Das war neu; sie demolierten jetzt also schon die Heliosstrahler. Was für ein Gefühl wäre es wohl, auch den letzten zu zerstören, fragte er sich. Den letzten Rest des alten Lichts auszulöschen – was für ein Gefühl wäre es, alt zu werden mit dem Wissen, daß die eigenen Hände so etwas getan hatten?
    Beim Ausbruch der blutigen Revolution hatte sich Pallis einfach zu seinen Bäumen zurückgezogen. Mit einem Vorrat an Wasser und Lebensmitteln hatte er gehofft, hier zwischen den geliebten Ästen seine Ruhe zu haben, weitab von dem Schmerz und dem Zorn, der das Floß heimsuchte. Er hatte sogar erwogen abzulegen und einfach allein wegzufliegen. Er wußte, daß die Boneys keiner Partei in diesem absurden Kampf Loyalität schuldeten.
    Allerdings, so entsann er sich, war er noch immer ein Mensch. Ebenso wie die rennenden Figuren auf dem Floß – sogar das selbsternannte Komitee – und diese verlorenen Seelen auf dem Belt. Und wenn das alles einmal zu Ende war, müßte wieder jemand da sein, der für die Leute Nahrungsmittel und Eisen transportierte.
    So hatte er abseits der Revolte gehofft, sie aussitzen zu können…
    Doch nun war dieses Intermezzo zu Ende.
    Er seufzte. Gut, Pallis, du kannst dich wohl vor ihrer verdammten Revolution verstecken, aber es sieht so aus, daß sie sich nicht vor dir versteckt.
    Natürlich mußte er gehen. Wenn nicht, würden sie ihm mit ihren Molotowcocktails auf den Leib rücken…
    Er nahm einen kräftigen Schluck Wasser, steckte sein Messer in das Futteral und glitt geschmeidig durch die Blätter.

    Er arbeitete sich zu einer Avenue vor und schlug dann die Richtung zum Rand des Floßes ein.
    Die Straße war menschenleer.
    Mit einem Schauder lauschte er nach Echos der Menge, die sich vor nicht allzu vielen Schichten hier entlanggewälzt hatte. Doch auf der breiten Durchgangsstraße herrschte nur tiefes, gespenstisches Schweigen. Der Gestank verbrannten Holzes dominierte die Szenerie, überlagert von einer gallertartigen, stickigen Atmosphäre. Er sah nach oben, zu der ruhigen Kuppel aus Bäumen und versuchte, seine Nase in den Strom der sanften, nach Holz duftenden Brise aus den Ästen zu halten.
    Wie er vermutet hatte, hing ein großer Teil der Heliosstrahler in Trümmern an ihren Kabeln, was die Lichtverhältnisse auf der Avenue zu einem Zwielicht reduzierte. Das Floß war zu einer Stätte der düsteren Finsternis geworden, wo die Schatten nur vereinzelt wichen, um einen Blick auf diese schöne neue Welt freizugeben. Er sah, wie ein Kind an den Überresten einer schon lange leeren Lebensmittelpalette leckte. Dann bemerkte er eine Gestalt, die an einem an den Baumtrossen befestigten Seil hing; auf dem Deck darunter war etwas Braunes und Dickes zu einer Pfütze geronnen…
    Pallis fühlte das Essen in seinem Bauch rumoren. Er machte sich wieder auf den Weg.
    Eine Gruppe junger Männer näherte sich ihm aus der Richtung der Plattform, mit ostentativ abgerissenen Schulterstücken. Ihre Augen waren vor Freude geweitet, und trotz seiner Muskeln ging Pallis ihnen aus dem Weg.
    Schließlich erreichte er das Ende des Kabelgewirrs und gelangte mit einiger Erleichterung an den freien Himmel. Er machte sich an den Aufstieg zum Rand und kletterte dann über die breiten, niedrigen Stufen zur Plattform hinauf. Zusammenhanglose Erinnerungen stiegen in ihm empor.

Weitere Kostenlose Bücher