Xeelee 1: Das Floss
haben wir diese ›Gravitationschemie‹ bisher nicht beobachtet?«
Rees nickte anerkennend. »Eine gute Frage. Hollerbach nimmt an, daß erst die richtigen Bedingungen vorliegen müssen: entsprechende Temperatur und Druck sowie ein enormer Anstieg der Schwerkraft…«
»Im Kern«, keuchte Rees. »Ich verstehe. Vielleicht…«
Ein leiser Knall war zu vernehmen.
Die Brücke bewegte sich leicht, als ob ein Beben durch ihre Struktur liefe. Das Bild auf dem Monitor verschwand.
Rees fuhr herum. Ein stechender Geruch nach Feuer und Rauch stieg in seine Nase. Die Wissenschaftler liefen kopflos durcheinander, aber die Instrumente schienen intakt zu sein. Irgendwo schrie jemand.
Nead zog ängstlich die Augenbrauen hoch. »Ist das normal?«
»Das kam aus der Bücherei«, murmelte Rees. »Nein, das ist verdammt überhaupt nicht normal.« Er atmete zur Beruhigung tief durch; und als er wieder sprach, war seine Stimme fest. »Ist gut, Nead. Ich möchte, daß du diesen Raum so schnell wie möglich verläßt. Warte, bis…« Seine Stimme brach ab.
Nead sah ihn mit einem Anflug des Verstehens an. »Bis was?«
»Bis ich dich kommen lasse. Nun geh.«
Der Junge bewegte sich halb rudernd zum Ausgang und bahnte sich einen Weg durch die Menge der Wissenschaftler.
Rees versuchte, die sich um ihn herum ausbreitende Panik zu ignorieren; er strich mit den Fingern über das Tastenfeld des Teleskops und arretierte das kostbare Instrument in seiner Ruhestellung. Für einen Moment bewunderte er sich selbst wegen seiner unbekümmerten Coolness. Letzten Endes aber, dachte er, reagierte er nur auf eine harte, schreckliche Tatsache. Menschen waren ersetzbar. Das Teleskop nicht.
Als er sich wieder von der Tastatur abwandte, sah er, daß das Observatorium verwüstet war. Papier und kleine Werkzeuge waren auf dem fugenlosen Fußboden verstreut oder trieben in der schwerelosen Zone. Und noch immer hing dieser Brandgeruch in der Luft.
Mit einem Gefühl der Leichtigkeit schritt er über den Fußboden der Kammer und kletterte hinaus in den Korridor. Rauch erfüllte die Luft und brannte ihm in den Augen, und als er sich der Bibliothek näherte, überlagerten Bilder der implodierten Gießerei und des Theaters des Lichts seine Gedanken, so, als ob sein Geist ein Teleskop wäre, das auf die Tiefen der Vergangenheit gerichtet war.
Als er die Bibliothek betrat, hatte er das Gefühl, in den halb verwesten Mund einer Mumie zu steigen. Bücher und Papiere hatten sich in geschwärzte Bündel verwandelt und waren gegen die Wand geschleudert worden; durch die Versuche der Wissenschaftler, ihren Schatz zu retten, waren die zerstörten Blätter zudem durch Löschwasser völlig eingeweicht worden. Es waren noch immer drei Männer hier, die mit feuchten Decken auf die schwelenden Seiten einschlugen. Als Rees eintrat, wandte sich einer von ihnen um. Bewegt erkannte Rees Grye, dem Tränen die geschwärzten Wangen hinunterliefen.
Rees fuhr vorsichtig mit einem Finger über die Einbände der zerstörten Bücher. Wieviel war in dieser Schicht verlorengegangen? – Welches Wissen, das sie vielleicht alle vor dem rauchigen Tod des Nebels bewahrt hätte?
Irgend etwas knackte unter seinen Füßen. Glasscherben lagen über den Fußboden verstreut, und Rees erkannte darunter den zerbrochenen, angesengten Hals einer Synthoweinflasche. Einen Augenblick lang wunderte er sich darüber, daß eine so primitive Erfindung wie eine mit brennendem Öl gefüllte Flasche solche Zerstörungen anrichten konnte.
Hier gab es nichts mehr für ihn zu tun. Er berührte Grye kurz an der Schulter; dann wandte er sich um und verließ die Brücke.
An den Türen waren keine Wachen zu sehen. Draußen bot sich ihm ein chaotisches Bild. Verschwommen nahm Rees rennende Menschen und Flammen am Horizont wahr; Fäuste und zornige Stimmen beherrschten das Bild auf dem Floß. Das von oben einfallende harte Sternenlicht ließ die Szenerie verschwimmen, machte sie farb- und konturenlos.
War es also doch geschehen. Seine letzten Hoffnungen, daß dieser Zwischenfall sich lediglich auf eine weitere Attacke auf die Labors beschränken würde, lösten sich in Luft auf. Das zerbrechliche Gefüge aus Vertrauen und Akzeptanz, welches das Floß zusammengehalten hatte, war endgültig zerbrochen…
Einige hundert Meter entfernt erblickte er eine Gruppe junger Männer, die einen stämmigen Mann umstellt hatten; Rees glaubte, Captain Mith zu erkennen. Der große Mann ging in einem Hagel von Schlägen zu Boden.
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