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Xenozid

Xenozid

Titel: Xenozid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Card Orson Scott
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Qing-jao, wirst du lernen, das Leiden zu ertragen, wie die Jade das Messer des Schnitzers erträgt, den groben Stoff des Polierers. Es wird dich leuchten lassen. Warum sonst habe ich dich wohl Qing-jao genannt?«
    Qing-jao – ›Strahlend Hell‹, das bedeutete ihr Name. Es war auch der Name einer großen Dichterin aus antiken Zeiten im Alten China. Einer Dichterin aus einer Epoche, als nur den Männern Respekt entgegengebracht wurde, und doch wurde sie als eine der größten Dichterinnen ihrer Zeit verehrt. ›Dünner Nebel und dicke Wolken, Düsternis den ganzen Tag über.‹ Das war der Anfang von Li Qing-jaos Lied ›Die doppelte Neunte‹. Und so fühlte sich Qing-jao nun.
    Und wie endete das Gedicht? ›Nun wird mein Vorhang nur vom Westwind gehoben. Ich bin dünner als diese goldene Blüte geworden.‹ Würde auch sie so enden? Erklärte ihre Vorfahrin-des-Herzens ihr in diesem Gedicht, daß sich die Dunkelheit, die sich nun über sie senkte, nur heben würde, wenn die Götter aus dem Westen kamen, um ihre dünne, leichte, goldene Seele aus ihrem Körper zu nehmen? Es war zu schrecklich, jetzt, da sie erst sieben Jahre alt war, an den Tod zu denken, und doch kam ihr der Gedanke: Wenn ich bald sterbe, werde ich bald Mutter sehen und auch die große Li Qing-jao selbst.
    Doch die Prüfung hatte nichts mit dem Tod zu tun, oder sollte es zumindest nicht. Sie war eigentlich ziemlich einfach. Vater führte sie in einen großen Raum, in dem drei alte Männer knieten. Sie kamen ihr zumindest wie Männer vor – es hätten auch Frauen sein können. Sie waren so alt, daß alle Unterscheidungsmerkmale verschwunden waren. Sie hatten nur die winzigsten Strähnen weißen Haars und keine Bärte, und sie waren in formlose Säcke gekleidet. Später würde Qing-jao erfahren, daß es sich bei ihnen um Tempeleunuchen handelte, Überlebende der alten Zeiten, bevor sich der Sternenwege-Kongreß einmischte und sogar freiwillige Selbstverstümmelung im Dienst einer Religion verbot. Nun jedoch waren sie geheimnisvolle, geisterhafte alte Geschöpfe, deren Hände sie berührten und ihre Kleidung erforschten.
    Wonach suchten sie? Sie fanden ihre Eßstäbchen aus Elfenbein und nahmen sie ihr weg. Sie nahmen ihr die Schärpe ab, die sie um die Taille geschlungen hatte. Sie nahmen ihr die Schuhe ab. Später würde sie erfahren, daß man ihr diese Dinge abnahm, weil andere Kinder während der Prüfung so verzweifelt geworden waren, daß sie sich das Leben genommen hatten. Eins hatte sich die Eßstäbchen in die Nasenlöcher gesteckt und sich dann zu Boden geworfen, daß sich die Stäbchen ins Gehirn rammten. Ein anderes hatte sich mit der Schärpe erhängt. Ein anderes hatte die Schuhe in den Mund gesteckt, in den Hals hinabgezwungen und sich erstickt. Selbstmordversuche waren selten, doch am häufigsten schienen sie bei den intelligentesten Kindern vorzukommen, und da hauptsächlich bei Mädchen.
    Die Alten gingen. Vater kniete neben Qing-jao nieder und sah ihr ins Gesicht. »Du mußt verstehen, Qing-jao, daß wir eigentlich nicht dich auf die Probe stellen. Nichts von dem, was du aus freiem Willen tun kannst, wird bei dem, was hier geschieht, etwas ändern. Wir stellen eigentlich die Götter auf die Probe, um zu sehen, ob sie entschlossen sind, zu dir zu sprechen. Wenn sie es sind, werden sie eine Möglichkeit finden, und wir werden es sehen, und du wirst diesen Raum als eine Gottberührte verlassen. Wenn nicht, dann wirst du hier herauskommen und für alle Zeiten von ihren Stimmen befreit sein. Ich kann dir nicht sagen, für welches Ergebnis ich bete, da ich es selbst nicht weiß.«
    »Vater«, sagte Qing-jao, »was geschieht, wenn du dich meiner schämen mußt?« Allein der Gedanke erzeugte ein Prickeln in ihren Händen, als sei wieder Schmutz auf ihnen.
    »Ich werde mich deiner nicht schämen.«
    Dann klatschte er in die Hände. Einer der Alten kam wieder herein und trug ein schweres Becken. Er setzte es vor Qing-jao ab.
    »Stecke die Hände hinein«, sagte Vater.
    Das Becken war mit dicker, schwarzer Schmiere gefüllt. Qing-jao erschauderte. »Ich kann die Hände da nicht hineinstecken.«
    Vater griff nach ihr, faßte ihre Unterarme und zwang ihre Hände in den Schlamm. Qing-jao schrie auf – ihr Vater hatte noch nie zuvor bei ihr Gewalt angewendet. Und als er ihre Arme losließ, waren ihre Hände mit klebriger Schmiere bedeckt. Sie keuchte auf, als sie sah, wie schmutzig sie waren.
    Der Alte hob das Becken auf und trug es

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