Xenozid
Strenge in seine Stimme, daß Qing-jao ohne weitere Fragen ging. Erst als sie fort war, wurde Han Fei-tzus Besorgnis um sie von anderen Gefühlen verdrängt. Er kniete über Jiang-qings Leiche nieder und versuchte sich vorzustellen, was nun mit ihr geschah. Ihre Seele war losgeflogen und befand sich nun bereits im Himmel. Ihr Geist würde viel länger verweilen; vielleicht würde ihr Geist in diesem Haus wohnen, falls sie hier wirklich glücklich gewesen war. Abergläubische Menschen nahmen an, die Geister aller Toten seien gefährlich, und stellten Schilder auf und trafen Maßnahmen, um sie abzuwehren. Doch die, die dem Weg folgten, wußten, daß der Geist eines guten Menschen niemals schädlich oder destruktiv war, denn die guten Eigenschaften im Leben entstanden durch die Liebe des Geistes zum Erschaffen. Falls Jiang-qings Geist blieb, würde er viele Jahre lang ein Segen für das Haus sein.
Doch noch in dem Augenblick, in dem er versuchte, sich laut der Lehre des Weges ihre Seele und ihren Geist vorzustellen, war eine kalte Stelle in seinem Herzen, die davon überzeugt war, daß von Jiang-qing lediglich dieser spröde, ausgetrocknete Körper übriggeblieben war. Heute abend würde dieser Körper so schnell wie Papier verbrennen, und dann würde sie bis auf die Erinnerungen in seinem Herzen verschwunden sein.
Jiang-qing hatte recht. Ohne sie, die sie seine Seele vervollständigte, zweifelte er bereits an den Göttern. Und die Götter hatten es bemerkt – sie bemerkten es immer. Plötzlich verspürte er den unwiderstehlichen Drang, das Ritual der Reinigung durchzuführen, bis er seine unwürdigen Gedanken verloren hatte. Selbst jetzt konnten sie ihn nicht unbestraft lassen. Selbst jetzt, wo seine Frau tot vor ihm lag, beharrten die Götter darauf, daß er ihnen Gehorsam leistete, bevor er auch nur eine einzige Träne der Trauer um sie vergießen konnte.
Zuerst wollte er seinen Gehorsam verzögern, zurückstellen. Er hatte sich beigebracht, das Ritual um einen ganzen Tag aufzuschieben, während er alle äußerlichen Anzeichen seiner innerlichen Qual verbarg. Ihm gelang das jetzt – aber nur, indem er sein Herz völlig kalt hielt. Und das war sinnlos. Angemessene Trauer konnte nur kommen, nachdem er die Götter zufriedengestellt hatte. Noch während er dort kniete, begann er mit dem Ritual.
Er zuckte noch und drehte sich, wie das Ritual es vorschrieb, als ein Diener verstohlen in den Raum sah. Obwohl der Diener nichts sagte, hörte Han Fei-tzu das schwache Gleiten der Tür und wußte, was der Diener schließen würde: Jiang-qing war tot, und Han Fei-tzu war so rechtschaffen, daß er mit den Göttern kommunizierte, noch bevor er dem Haushalt von ihrem Tod berichtete. Zweifellos würden einige sogar vermuten, daß die Götter gekommen waren, um Jiang-qing zu holen, da sie für ihre außerordentliche Heiligkeit bekannt war. Niemand würde argwöhnen, Han Fei-tzus Herz könne noch in dem Augenblick, da er betete, voller Verbitterung darüber sein, daß die Götter selbst in diesem Augenblick Gehorsam von ihm zu verlangen wagten.
O Götter, dachte er, wenn ich wüßte, daß ich euch für immer los sein könnte, wenn ich mir einen Arm abtrennte oder die Leber herausschnitte, ich würde nach dem Messer greifen und den Schmerz und Verlust gern hinnehmen, nur um frei zu sein.
Auch dieser Gedanke war unwürdig und verlangte noch mehr Reinigung. Es dauerte Stunden, bevor die Götter ihn endlich freigaben, und dann war er zu müde, und ihm war zu elend zumute, um zu trauern. Er erhob sich und holte die Frauen, damit sie Jiang-qings Leiche für die Verbrennung vorbereiteten.
Um Mitternacht kam er als letzter zum Scheiterhaufen, eine schläfrige Qing-jao in den Armen. Sie hatte die Finger fest um die drei Zettel geschlossen, die sie mit ihrem kindlichen Gekritzel für ihre Mutter geschrieben hatte. ›Fisch‹, hatte sie geschrieben, und ›Buch‹ und ›Geheimnisse‹. Das waren die Dinge, die Qing-jao ihrer Mutter mit in den Himmel gab. Han Fei-tzu hatte versucht, sich die Gedanken vorzustellen, die Qing-jao gehabt haben mochte, als sie diese Worte niederschrieb. Fisch zweifellos wegen der Karpfen im Bach im Garten. Und Buch – das war leicht zu verstehen, denn bis zum Schluß hatte Jiang-qing ihrer Tochter laut vorlesen können. Aber warum Geheimnisse? Welche Geheimnisse hatte Qing-jao für ihre Mutter gehabt? Er konnte sie nicht fragen. Man spricht nicht über die Zettel, die man den Toten mitgibt.
Han Fei-tzu
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