Xenozid
sagte sie zu den Göttern. »Was kein Mensch vollbracht haben könnte, müßt ihr vollbracht haben. Ihr habt nach der Lusitania-Flotte gegriffen und sie von uns abgeschnitten.«
Die Antwort kam, aber nicht mit Worten, sondern dem ständig zunehmenden Drang, sich zu reinigen.
»Aber der Kongreß und die Admiralität sind nicht der Weg. Sie können sich die goldene Tür in die Stadt des Jadebergs im Westen nicht vorstellen. Wenn Vater zu ihnen sagt: ›Die Götter haben eure Flotte gestohlen, um euch für eure Verderbtheit zu bestrafen!‹, werden sie ihn nur verachten. Wenn sie ihn verachten, unseren größten lebenden Staatsmann, werden sie auch uns verachten. Und wenn sich Weg wegen Vater schämt, wird er ihn vernichten. Habt ihr das deshalb getan?«
Sie begann zu weinen. »Ich werde nicht zulassen, daß ihr meinen Vater vernichtet. Ich werde einen anderen Weg finden. Ich werde eine Antwort finden, die sie zufriedenstellt. Ich trotze euch!«
Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als die Götter ihr das überwältigendste Gefühl abscheulicher Unreinheit schickten, das sie jemals wahrgenommen hatte. Es war so stark, daß es ihr den Atem nahm, und sie stürzte nach vorn und hielt sich am Terminal fest. Sie versuchte zu sprechen, um Vergebung zu bitten, doch statt dessen würgte sie und schluckte heftig, um sich nicht zu übergeben. Sie hatte den Eindruck, ihre Hände würden Schleim auf allem verteilen, was sie berührten; als sie sich auf die Füße kämpfte, klebte ihr Gewand an ihrer Haut, als sei sie mit dicker, schwarzer Schmiere bedeckt.
Aber sie wusch sich nicht. Noch warf sie sich zu Boden und verfolgte Linien im Holz. Statt dessen taumelte sie zur Tür, um nach unten zum Zimmer ihres Vaters zu gehen.
Doch die Türschwelle hielt sie auf. Nicht körperlich, die Tür schwang so leicht auf wie immer, und trotzdem konnte sie nicht hindurchgehen. Sie hatte gehört, daß die Götter ihre ungehorsamen Diener auf Türschwellen aufhielten, doch am eigenen Leib hatte sie es noch nie erfahren. Sie begriff nicht, wie sie aufgehalten wurde. Ihr Körper konnte sich frei bewegen. Es gab keine Barriere. Doch sie empfand solch ein fürchterliches Entsetzen bei dem Gedanken, durch die Tür zu gehen, daß sie wußte, sie war einfach nicht dazu imstande. Sie wußte, die Götter verlangten irgendeine Buße von ihr, irgendeine Reinigung, oder sie würden niemals dulden, daß sie ihr Zimmer verließ. Nicht das Aufspüren von Holzmaserungen, kein Händewaschen. Was verlangten die Götter dann?
Und dann wußte sie auf einmal, wieso die Götter sie nicht durch diese Tür schreiten ließen. Es war der Eid, den Vater ihr auf Mutters Wunsch abverlangt hatte. Der Eid, daß sie den Göttern immer dienen würde, ganz gleich, was geschah. Und hier hatte sie ihnen zu trotzen versucht. Mutter, vergib mir! Ich werde den Göttern nicht trotzen. Aber ich muß trotzdem zu Vater gehen und ihm die schreckliche Zwangslage erklären, in die die Götter uns gebracht haben. Mutter, hilf mir, durch diese Tür zu gehen!
Wie als Antwort auf ihre Bitte wurde ihr klar, wie sie durch diese Tür gehen konnte. Sie mußte lediglich ihren Blick ganz fest in die Luft hinter der oberen rechten Türecke richten und, während sie den Blick niemals von dieser Stelle abwand, rückwärts mit dem rechten Fuß durch die Tür treten, die linke Hand hindurchstecken, sich dann nach links drehen, das linke Bein rückwärts über die Schwelle bringen und dann den rechten Arm. Es war kompliziert und schwierig, fast wie ein Tanz, doch indem sie sich ganz langsam und vorsichtig bewegte, schaffte sie es.
Die Tür gab sie frei. Und obwohl sie den Druck ihrer Unreinheit noch spürte, hatte seine Intensität etwas nachgelassen. Es war erträglich. Sie konnte atmen, ohne zu keuchen, sprechen, ohne zu würgen.
Sie ging nach unten und betätigte die kleine Glocke vor der Tür ihres Vaters.
»Ist es meine Tochter, meine ›Strahlend Helle‹?« fragte Vater.
»Ja, Ehrwürdiger«, sagte Qing-jao.
»Ich bin bereit, dich zu empfangen.«
Sie öffnete Vaters Tür und trat hindurch. Diesmal war kein Ritual erforderlich. Sie ging direkt zu ihm – er saß auf seinem Stuhl vor dem Terminal – und kniete vor ihm nieder.
»Ich habe mir deine Si Wang-mu angesehen«, sagte Vater, »und bin der Ansicht, deine erste Einstellung war eine würdige.«
Es dauerte einen Augenblick, bis Vaters Worte Sinn ergaben. Si Wang-mu? Warum sprach Vater über eine uralte Göttin mit ihr? Sie sah
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