Xenozid
Sachen sagen. »In meinem Haus ist es anders«, sagte sie.
»Aber ich diene nicht in Eurem Haus.«
Nun wurde ihr plötzlich alles klar. Wang-mu hatte sie nicht aus einer Laune heraus angesprochen, sondern in der Hoffnung, man würde ihr eine Stelle als Dienstmagd im Haus einer Gottberührten anbieten. Nach allem, was sie wußte, galt der Klatsch in der Stadt zur Zeit fast ausschließlich der jungen Dame Han Qing-jao, zu der die Götter sprachen und die mit ihren Lehrern fertig war und ihre erste Aufgabe als Erwachsene bekommen hatte – und daß sie noch immer weder einen Gatten noch eine geheime Magd hatte. Si Wang-mu hatte wahrscheinlich durch irgendwelche Tricks erreicht, derselben Gruppe rechtschaffener Arbeiter zugeteilt zu werden wie Qing-jao, um genau dieses Gespräch führen zu können.
Einen Augenblick lang war Qing-jao wütend. Dann dachte sie: Warum sollte Wang-mu nicht genau das tun, was sie getan hat? Das schlimmste, was ihr passieren könnte, wäre, daß ich dahinterkäme, was sie vorhat, wütend werde und sie nicht einstelle. Dann wäre sie nicht schlechter dran als zuvor. Und wenn ich nicht dahinterkäme, was sie vorhat, und sie tatsächlich mag und sie einstellte, wäre sie die geheime Magd einer gottberührten Dame. Hätte ich nicht dasselbe getan, wäre ich an ihrer Stelle?
»Glaubst du, du kannst mich hereinlegen?« fragte Qing-jao. »Glaubst du, ich wüßte nicht, daß du mich dazu bringen willst, dich als meine Dienerin einzustellen?«
Wang-mu schaute verwirrt, wütend, verängstigt drein. Klugerweise schwieg sie jedoch.
»Warum gibst du mir keine wütende Antwort?« fragte Qing-jao. »Warum streitest du nicht ab, nur mit mir gesprochen zu haben, damit ich dich einstelle?«
»Weil es stimmt«, sagte Wang-mu. »Ich lasse Euch jetzt allein.«
Das hatte Qing-jao zu hören gehofft – eine ehrliche Antwort. Sie hatte nicht die Absicht, Wang-mu gehen zu lassen. »Wieviel von dem, was du mir erzählt hast, ist wahr? Daß du eine gute Ausbildung willst? Daß du etwas besseres in deinem Leben tun willst als Dienstbotenarbeit?«
»Alles«, sagte Wang-mu, und es lag nachdrückliche Leidenschaft in ihrer Stimme. »Aber was bedeutet Euch das? Ihr tragt die schreckliche Last der Stimmen der Götter.«
Wang-mu sprach den letzten Satz mit solch verächtlichem Sarkasmus, daß Qing-jao fast laut aufgelacht hätte; doch sie hielt sich zurück. Es bestand kein Grund, Wang-mu noch wütender zu machen, als sie es schon war. »Si Wang-mu, Tochter-im-Herzen der Königlichen Mutter des Westens, ich werde dich als meine geheime Magd einstellen, aber nur, wenn du mit den folgenden Bedingungen einverstanden bist. Erstens, ich werde deine Lehrerin sein, und du wirst alle Lektionen lernen, die ich dir stelle. Zweitens, du wirst mich als Gleichberechtigte ansprechen und dich nie vor mir verbeugen oder mich ›Heilige‹ nennen. Und drittens…«
»Wie könnte ich das?« sagte Wang-mu. »Wenn ich Euch nicht mit Respekt behandle, werden die anderen sagen, ich sei unwürdig. Sie würden mich bestrafen, wenn Ihr nicht hinseht. Es würde uns beide entehren.«
»Natürlich wirst du respektvoll sein, wenn andere uns sehen können«, sagte Qing-jao. »Doch wenn wir allein sind, nur du und ich, behandeln wir uns wie Gleichberechtigte, oder ich werde dich fortschicken. Dann heißt es auch nicht ›Ihr‹, sondern ›du‹.«
»Und die dritte Bedingung?«
»Du wirst niemals einer Menschenseele ein Wort von dem verraten, was ich zu dir sage.«
Nun zeigte Wang-mus Gesicht offenen Zorn. »Eine geheime Magd verrät nie etwas. In unseren Köpfen werden Barrieren errichtet.«
»Die Barrieren helfen dir, dich daran zu erinnern, nichts zu erzählen«, sagte Qing-jao. »Doch wenn du etwas erzählen willst, kannst du um sie herumkommen. Und es gibt andere, die dich zu überreden versuchen werden, etwas zu verraten.« Qing-jao dachte an die Laufbahn ihres Vaters, an all die Geheimnisse des Kongresses, die sich in seinem Kopf befanden. Er erzählte niemandem davon; er hatte niemandem, mit dem er darüber sprechen konnte, abgesehen von Qing-jao mitunter. Sollte sich Wang-mu als vertrauenswürdig erweisen, würde auch Qing-jao jemanden haben. Sie würde nie so einsam sein wie ihr Vater. »Hast du mich nicht verstanden?« fragte sie. »Die anderen werden glauben, ich hätte dich als geheime Magd eingestellt. Aber du und ich, wir beide wissen, daß du in Wirklichkeit meine Schülerin bist, daß ich dich in Wirklichkeit zu mir geholt
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