Yofi oder Die Kunst des Verzeihens – Ein Nashorn lernt meditieren
Antros hat den Schwur gebrochen und gegen mich gekämpft.«
»Daran zweifelt niemand. Trotzdem riecht es nach einer Fälschung. Und zwar nach der gemeinsten, die ich kenne: Die Schlürfer belügen dich mit der Wahrheit.«
Yofi war einen Moment lang so verdattert, dass ihm nichts mehr einfiel. Erst nach und nach formte sich in seinem Gehirn ein halbwegs sinnvoller Gedanke.
»Mit der Wahrheit ?«, fragte der Enkel in einer Weise, die andeuten sollte, dass er sich um den Geisteszustand des Alten sorgte.
Mittags standen sie im Schatten einer Akazie.
Meru sagte:
»Ich wurde lange Zeit deshalb wütend, weil ich mich jeden Tag daran erinnerte, wie meine Mutter mich schlug.«
»Aber das war doch die Wahrheit.«
»Ja. Aber der Eindruck, dass sie mich ständig prügelte – das war eine Lüge. Ich sah die Bilder jeden Tag. Deshalb war ich bald überzeugt, auch jeden Tag verdroschen worden zu sein.«
»Und was haben die Traumschlürfer damit zu tun?«
»Sie haben wahre Bilder vergrößert. Deshalb habe ich nur die gesehen. Und vergessen, was meine Mutter sonst alles für mich getan hat. Ich hatte lange Zeit nicht einmal die kleinste Erinnerung daran, dass wir uns meistens vertragen haben. Zum Beispiel hat sie mir oft tröstliche Geschichten erzählt. Alles blieb hinter den Riesenbildern versteckt, auf denen sie mich prügelte.«
Yofi geriet ins Nachdenken.
Größere Bilder machen sicher auch mehr Groll.
»Als ich so alt war wie du«, erzählte der Großvater weiter, »lebte am Hohen Berg ein windiger Madenhacker. Er verbreitete jeden Morgen die Neuigkeiten der Gegend: über die Löwen, über die Antilopen, über die Elefanten. Bis auf wenige Ausnahmen war es nie ganz falsch, was er berichtete – er bauschte es nur ein wenig auf. Nun, die Übertreibung ist die kleine Schwester der Lüge. Der richtige Schwindel aber lag woanders.«
»Wo?«
»Der Vogel erweckte den Eindruck, die Nachrichten seien wichtiger als alles, was sonst in der Savanne geschah. Das war die reine Unwahrheit.«
Yofi stampfte durchs Gras.
»Wie kommst du bloß auf die hirnrissige Idee, dass ich mich selbst bekämpfe?«
»So sieht es für mich aus«, antwortete Meru.
»Aber es geht doch um Antros .«
»Was fühlst du gerade?«
»Ich ärgere mich.«
»Genau: Du bist es, der sich selbst ärgert. Leidet Antros eigentlich sehr unter deiner alten Wut?«
»Wie kann er darunter leiden? Er ist ja gar nicht hier!«
»Eben. Dein Groll tut dir alleine weh. Antros kriegt davon überhaupt nichts mit. Der Zorn verletzt dein Herz, nicht seines.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Spürst du den Groll?«
»Ja!«
»Mehr musst du nicht verstehen. Antros ist in deiner Fantasie da. Sie gehört zu dir wie deine Hörner, deine Ohren und deine Hufe. Wenn du in der Vorstellung mit jemandem kämpfst, dann kämpfst du gegen dich. Wenn du Antros in Gedanken beleidigst, beleidigst du dich.«
»Aber ...«
»Deine Fantasie wirkt in dir! Denk noch einmal an die wunderbaren Momente mit dem schönsten Nashornweibchen.«
Yofi blieb stehen. Er schnitt eine Grimasse, senkte die Augenlider und malte sich aus, so nahe wie möglich bei Sara zu sein. Bald darauf kribbelte es wieder überall.
»Wenn du das Bild lange genug anschaust, richtest du dich darauf ein, ein Kind zu zeugen. So ähnlich ist es, wenn du wütend bist: Du siehst, wie du raufst und dein Körper bereitet sich auf einen Kampf vor.«
Yofi öffnete die Augen und sagte:
»Das ist auch gut so.«
»Ja, falls dein Rivale anwesend ist und tatsächlich gegen dich kämpft. Wut hat einen Sinn! Man braucht sie, um sich wehren zu können. Wenn dein Feind aber nur in deinem Kopf existiert, dann richtest du sie gegen dich.«
»Und was ist daran so schlimm?«
»Sie verbraucht sich nicht und bleibt in dir stecken. Das vergiftet deinen Leib und dein Herz. Mich hätte dieses Gift beinahe getötet.«
»Wie kann etwas Gutes giftig sein?«
»Frisches Wasser ist gesund – faules macht krank.«
Am Abend regnete es.
Meru fragte:
»Willst du eine Gute-Nacht-Geschichte hören?«
Yofi nickte.
»Es war einmal ein Wassertropfen. Er war sehr klug ziemlich frech und ein wenig eigensinnig. Er war schon recht weit herumgekommen: dreimal ans Meer, drei lange Flugreisen in einer großen Wolke, drei Absprünge von ganz oben. Aus einer Wolke zu springen fand er fast so lustig, wie einen Wasserfall hinunterzustürzen. Vor dem vierten Sprung aus einer Wolke hatte der Tropfen sich vorgenommen, den Saltorekord zu brechen. Es gelang
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