Yofi oder Die Kunst des Verzeihens – Ein Nashorn lernt meditieren
mir leichtfällt, das zu akzeptieren. Aber seit es mir ab und zu gelingt, sind meine Tage friedvoller.«
»Hört, hört.«
Meru blieb gelassen.
»Weißt du, ich war lange Zeit meines Lebens so hochmütig, dass es gut und gerne für drei Nashörner gereicht hätte. Deshalb kann ich die restliche Zeit, die mir bleibt, zur Abwechslung etwas demütig sein.«
»Also, wenn ich du wäre, dann würde ich das ach so mächtige Leben gleich für eine ganze Trockenzeit anflehen. Oder besser noch: für immer.«
Meru schmunzelte.
»Das habe ich versucht. Es ist gründlich danebengegangen.«
»Wieso?«
»Ich hasse das Gefühl, mich festzulegen. Ein Tag ist der längste Zeitraum, den ich überblicken kann. Außerdem habe ich so die Freiheit, jeden Morgen neu zu entscheiden, ob ich wirklich auf Groll verzichten will.«
Yofi konnte nicht einschätzen, ob die letzte Bemerkung ernst gemeint war.
Sie kamen ein drittes Mal an einen Fluss. Nach einem erfrischenden Bad im kühlen Wasser folgten sie dem Ufer.
Yofi fragte:
»Warum will ich eigentlich ausgerechnet ans Meer? Warum wolltest du das? Warum Großvater Sasa?«
»Ich glaube, das bleibt das Geheimnis des Lebens. Man kann sich seine Herzenswünsche nicht aussuchen. Das Leben wählt sie. Das ist sein Geschenk an uns.«
»Möchte es auch noch, dass wir uns bedanken?«, brummte Yofi.
»Ich denke, es genügt, wenn wir das Geschenk annehmen.«
»Und was bedeutet das?«
»Das heißt: deinem Herzenswunsch treu bleiben und dein Bestes geben, um ihn zu erfüllen. Wenn du das tust, bist du am lebendigsten – das ist das Ziel des Großen Kampfes.«
Yofi legte die Stirn in Falten.
»Hört sich alles ziemlich vertrackt an.«
»Es ist einfacher, als man denkt.«
*
Am nächsten Tag versuchte Yofi erneut, keinen Gedanken an das feindliche Nashorn zu verschwenden, mit dem er früher so eng befreundet gewesen war. Als es Nacht wurde, erzählte er geknickt, dass er so viele rabiate Bilder gesehen hatte wie lange nicht mehr.
»Heute ist vorbei«, tröstete ihn der Großvater. »Morgen fängst du von vorne an.«
»Gibt es keine andere Art, zu kämpfen ?«
»Du kannst jeden Tag die Grundhaltung des Großen Kampfes einüben«, antwortete Meru, als sei das selbstverständlich.
» Grundhaltung? «
»Das ist die Bereitschaft, in allen, die dir begegnen, das wahre Wesen zu erkennen – zu jedem Zeitpunkt.«
»Was heißt denn das schon wieder?«
»Das heißt, jeden so zu sehen, wie er sein möchte. So, als hätte er seinen Lebenstraum bereits verwirklicht.«
»Und wie, bitte schön, soll das gehen?«
»Wenn jemand seinen größten Wunsch in die Tat umgesetzt hat, erkennt man das daran, dass seine Augen auf eine besondere Weise leuchten – vor Lebensfreude.«
»Aha. Ich soll also ein Leuchten sehen, das gar nicht da ist«, spottete Yofi.
»Wenn du die Grundhaltung ernsthaft übst, wirst du zumindest einen Schimmer dieses Leuchtens erkennen. Bei jedem.«
Yofi ahnte, worauf der nächtliche Wortwechsel hinauslief.
» Bei jedem? «
»Ja. Für mich heißt das: sogar bei meiner Mutter. Da sie bereits tot ist, betrachte ich sie so, wie sie gerne geworden wäre.«
»Und ich soll den Glanz bestimmt in Antros’ Augen sehen.«
»Wie gesagt: Du lernst schnell.«
»Leider, leider weiß ich nicht, wo der Miesling gerade steckt«, sagte Yofi sarkastisch.
»Ist es nicht wunderbar, dass es die Traumschlürfer gibt?«, fragte Meru heiter. »Sie schaffen ihn her, sooft sie können. Extra für dich.«
»Antros mit leuchtenden Augen? Das tue ich mir nicht an! Nie im Leben!«
*
Kurz nach Sonnenaufgang standen die beiden Nashörner nebeneinander und kauten Gras.
»Heute will ich dir etwas zeigen, das ich von Großvater Sasa gelernt habe. Er hatte viele Namen dafür. Einer davon war: der heilsame Atem.«
»Was?«, murmelte Yofi müde.
»Man kann die Lügen der Traumschlürfer verwandeln und daraus die Kraft schöpfen, die man braucht, um den Herzenswunsch zu erfüllen.«
»Das geht?«
Meru nickte.
»Es ist eines der vielen Wunder, die der Große Kampf bereithält. Du kannst es den ganzen Tag über entdecken – immer wieder aufs Neue.«
»Wie?«
»Recht einfach: Du atmest die Lügenbilder in die Mitte deines Herzens. Dorthin, wo der letzte Tropfen deines Traumes verborgen ist. Ich atme meine schlagende Mutter, die böse schaut, direkt in meine Herzensmitte hinein.«
»Und dann?«
»Wenn das Bild ganz innen ist, stelle ich mir das Leuchten in ihren Augen vor. Dieses veränderte Bild
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