Yoga-Anatomie
zusammen aus pra- , der präpositionellen Vorsilbe »vor-«, und an , einem Verb, das sowohl »atmen«, »blasen« als auch »leben« bedeutet. Prana bezeichnet nicht nur das, was als Nahrung eingenommen wird, sondern auch den Vorgang des Einnehmens. In diesem Kapitel bezieht sich das Wort auf die Lebensprozesse eines Einzelwesens. In einer anderen Wortbedeutung ist Prana ein weit gefasster Begriff, der die Manifestation einer universellen schöpferischen Lebensenergie bezeichnet.
In lebenden Organismen müssen sich die Kräfte im Gleichgewicht befinden, daher gibt es einen dem Prana entgegengesetzten yogischen Begriff: Apana , abgeleitet von apa, was so viel wie »weg«, »ab« oder »hinab« bedeutet. Apana bezieht sich auf die Ausscheidungsstoffe sowie den Vorgang des Ausscheidens selbst. Diese beiden grundlegenden yogischen Begriffe – Prana und Apana – drücken die wesentlichen Funktionen des Lebens auf jeder Ebene aus, von der Zelle bis zum Organismus.
Sthira und Sukha
Wenn Prana und Apana Funktionen beschreiben, wie steht es dann um die strukturellen Bedingungen, die in einer Zelle bestehen müssen, damit Nährstoffe eindringen und Abfallstoffe austreten können? Diese Funktion erfüllt die Membran – eine Struktur, die durchlässig genug sein muss, Stoffe herein- und hinauszulassen (siehe unten Abb. 1.1). Ist die Membran jedoch zu durchlässig, verliert die Zelle ihre Beständigkeit, indem sie entweder vor Innendruck explodiert oder unter dem Druck von außen implodiert.
In einer Zelle (wie überhaupt in allen Lebewesen) herrscht eine Balance zwischen Durchlässigkeit und dem Prinzip der Stabilität. Im Yoga spiegelt sich diese Polarität in den Begriffen Sthira und Sukha wider . Das Sanskrit-Wort Sthira bedeutet »fest«, »hart«, »kompakt«, »stark«, »unbeweglich« oder »dauerhaft«. Sukha besteht aus zwei Wörtern: su heißt »gut«, ka steht für »Raum«. Es bedeutet »leicht«, »angenehm«, »sanft«, »mild« und beschreibt einen Zustand des Wohlbefindens, frei von hinderlichen Einflüssen.
Abb. 1.1 Die Zellmembran muss die Balance zwischen Eindämmung (Stabilität) und Durchlässigkeit halten.
Alle erfolgreichen Lebewesen müssen Eindämmung und Durchlässigkeit, Widerstandskraft und Formbarkeit, Beharrlichkeit und Anpassung, Ausdehnung und Eingrenzung in der Balance halten. Auf diese Weise verhindert das Leben seine Zerstörung durch Hunger oder Vergiftung, durch Implosion oder Explosion.
Auch von Menschenhand Geschaffenes funktioniert nur, wenn Sthira und Sukha ausbalanciert sind: So müssen beispielsweise die Löcher im Sieb groß genug sein, um Wasser durchzulassen, aber klein genug, um Nudeln aufzufangen. Eine Hängebrücke muss elastisch genug sein, um Wind und Erdbeben zu überstehen, aber starr genug, um die Fahrbahn zu tragen. In diesem Bild findet sich auch das Wechselverhältnis von Spannung und Druck wieder, das im zweiten Kapitel behandelt wird.
Sukha bedeutet auch, »eine gute Achsbohrung« zu haben, und beschreibt demnach eine Aussparung in der Mitte, die eine Funktion ermöglicht. Wie ein Rad braucht auch ein Mensch guten Raum in seiner Mitte, sonst werden funktionelle Verbindungen unmöglich.
Die Wege von Prana und Apana: Nahrung rein, Abfall raus
Die Wege von Nahrung und Abfall im Körper sind nicht so einfach wie in der Zelle, aber sie sind auch nicht so kompliziert, dass sie nicht genauso leicht zu verstehen wären.
Abbildung 1.2 zeigt ein vereinfachtes Schema der Nahrungs- und Abfallwege. Deutlich zu sehen ist, dass der menschliche Organismus oben und unten offen ist. Am oberen Ende des Systems nimmt man Prana, Nahrung in fester und flüssiger Form, zu sich: sie durchläuft den Verdauungskanal und nach allerlei Windungen kommt das, was übrig bleibt, unten heraus. Es muss sich abwärts bewegen, denn der Ausgang ist am unteren Ende. Darum ist die Kraft des Apana, angewandt auf festen und flüssigen Abfall, der hinaus soll, nach unten gerichtet.
Abb. 1.2 Feste und flüssige Nahrung (blau) gerät am oberen Ende in das System und verlässt es als Abfall am unteren Ende. Gasförmige Nähr- und Abfallstoffe (rot) werden oben aufgenommen und ausgeschieden.
Prana nehmen wir auch in Gasform ein: genau wie feste und flüssige Nahrung tritt der Atem oben ein. Aber die eingeatmete Luft bleibt oberhalb des Zwerchfells in den Lungen (Abb. 1.3), wo sie mit dem Blut in den Kapillaren auf den Lungenbläschen Gase tauscht. Die Abgase in den Lungen müssen hinaus –
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