Yoga-Anatomie
Lebensphase kein Problem zu sein. Tatsächlich beginnen Babys gleich nach dem ersten Atemzug damit, ihre Körperhaltung auszubilden, und zwar mit dem Saugen. Die komplexe und koordinativ schwierige Tätigkeit des gleichzeitigen Atmens, Saugens und Schluckens verschafft ihnen schon bald die nötige Körperspannung für die erste Haltungsleistung: das Gewicht des Kopfes zu stützen. Das ist für Babys kein Kinderspiel, wenn man bedenkt, dass ihr Kopf ein Viertel ihrer gesamten Körperlänge ausmacht, während es bei Erwachsenen nur ein Achtel ist.
Für das Halten des Kopfes ist nicht nur das Zusammenspiel vieler Muskeln notwendig, sondern es ist auch – wie bei allen Haltungsleistungen – ein Balanceakt zwischen Mobilisation und Stabilisation. Die Körperhaltung entwickelt sich vom Kopf abwärts, bis die Babys nach etwa einem Jahr mit dem Laufen beginnen, und findet erst mit der Ausbildung der Lendenkurve im Alter von etwa zehn Jahren ihren Abschluss (mehr dazu in Kapitel 2).
Ein gesundes Leben auf diesem Planeten erfordert ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Atem und Haltung, Prana und Apana, Sthira und Sukha. Wenn mit einer dieser Funktionen etwas nicht stimmt, können die anderen auch nicht in Ordnung sein. So gesehen kann man Yoga als Methode betrachten, um die Systeme des Organismus in Einklang zu bringen, damit man im Leben mehr Sukha als Dukha erlebt.
Fassen wir zusammen: Im Moment der Geburt werden wir mit zwei Kräften konfrontiert, die in utero nicht vorhanden waren, nämlich Atmung und Schwerkraft. Um zu gedeihen, müssen wir diese Kräfte in Einklang bringen, solange wir auf diesem Planeten Atem schöpfen.
Atmung: Bewegung in zwei Hohlräumen
Die Atmung wird in medizinischen Texten traditionell als Vorgang des Einholens von Luft in die Lungen und des Ausstoßens aus denselben definiert. Dieser Vorgang – das Strömen der Luft in die Lungen und wieder hinaus – ist eine Bewegung, genauer gesagt ist es eine Bewegung der Körperhohlräume, die ich als Formveränderung bezeichnen möchte. Für unsere Erkundungen gilt also die Definition:
Atmung ist die Formveränderung der Hohlräume unseres Körpers
Die vereinfachte Darstellung des menschlichen Körpers in Abb. 1.4 zeigt, dass der Rumpf aus zwei Hohlräumen besteht: der Brusthöhle und der Bauchhöhle. Diese Hohlräume haben Gemeinsamkeiten, aber auch wichtige Unterschiede. Beide enthalten lebenswichtige Organe: in der Brusthöhle finden sich Herz und Lunge, die Bauchhöhle enthält Magen, Leber, Gallenblase, Milz, Bauchspeicheldrüse, Dünn- und Dickdarm, Nieren und Harnblase.
Beide öffnen sich an einem Ende zur Außenwelt – die Brusthöhle oben, die Bauchhöhle unten. Diese Öffnungen zueinander 3 befinden sich in einem wichtigen gemeinsamen und abgrenzenden Gebilde, dem Zwerchfell. Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Hohlräume ist die Abgrenzung zur Wirbelsäule auf der Rückseite. Außerdem sind beide Hohlräume beweglich – sie verändern ihre Form. Diese Verformbarkeit ist für die Atmung von höchster Wichtigkeit, denn ohne diese Bewegung könnte der Körper überhaupt nicht atmen.
Obwohl Bauchhöhle wie Brusthöhle ihre Form verändern, gibt es in der Art, wie sie es tun, einen wichtigen strukturellen Unterschied.
Abb. 1.4 Die Atmung ist eine Formveränderung von Bauchhöhle und Brusthöhle zwischen Einatmung (a) und Ausatmung (b).
Wasserballon und Akkordeon
Die Bauchhöhle verändert ihre Form wie ein elastisches, wassergefülltes Gebilde, etwa wie ein Wasserballon. Kneift man in das eine Ende eines Wasserballons, wölbt sich das andere Ende (Abb. 1.5).
Das ist so, weil Wasser nicht komprimierbar ist. Der Druck der Hand bewegt nur das gleichbleibende Wasservolumen von einem Ende des elastischen Behälters zum anderen. Das Gleiche passiert, wenn die Bauchhöhle durch Atembewegungen zusammengedrückt wird: Druck auf den einen Bereich bewirkt, dass sich der andere Bereich ausbeult. Daher verändert die Bauchhöhle beim Atmen zwar ihre Form, aber nicht ihr Volumen. Andere Lebensvorgänge als das Atmen führen durchaus zu einer Änderung des Volumens der Bauchhöhle. Nimmt man einen halben Liter Flüssigkeit oder eine reichhaltige Mahlzeit zu sich, steigt das Gesamtvolumen der Bauchhöhle infolge der Ausdehnung der Verdauungsorgane (Magen, Darm, Blase). Jeder Volumenanstieg in der Bauchhöhle führt zu einer entsprechenden Verringerung des Volumens in der Brusthöhle. Daher fällt das Atmen nach einer reichhaltigen Mahlzeit, vor
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