Yoga-Anatomie
allerdings auf dem gleichen Weg, auf dem sie hereingekommen sind. Die Kraft des Apana muss beim Ausstoß der Atemabgase nach oben gerichtet sein. Apana muss aufwärts wie abwärts funktionieren, je nachdem, welche Art von Abfall abgeführt wird.
Die Fähigkeit, das nach unten drängende Apana umzukehren, ist eine grundlegende und sehr nützliche Technik, die man sich in der Yoga-Praxis aneignen kann, aber die meisten Menschen sind dazu ohne Training nicht in der Lage. Die meisten Menschen sind daran gewöhnt, Apana mit abwärts gerichtetem Druck auszuführen, da sie gelernt haben, sich zusammenzuziehen und nach unten zu pressen, wenn etwas aus dem Körper ausgeschieden werden soll. Und so kommt es, dass Yoga-Anfänger auf die Anweisung hin, vollständig auszuatmen, ihre Atemmuskulatur so aktivieren, als ob sie urinierten oder defäkierten.
Abb. 1.3 Der Weg, den die Luft nimmt, um in den Körper hinein- und aus ihm herauszuströmen.
Sukha und Dukha
Damit Prana und Apana in gesundem Verhältnis zueinander stehen, müssen die Wege frei von hinderlichen Einflüssen sein. In der Sprache des Yoga muss der betreffende Bereich im Zustand des Sukha sein, was, wörtlich übersetzt, »guter Raum« bedeutet. Schlechten Raum bezeichnet man als Dukha , zusammengesetzt aus dus (»schlecht« oder »schwierig«) und kha (»Raum«). Dukha wird meist mit »leidend«, »unwohl«, »unerfreulich« oder »schwierig« übersetzt.
Dieses Schema verweist auf die fundamentale Methodologie des klassischen Yoga, nämlich Blockaden oder Hemmnisse ( Kleshas 1 ) im System zu behandeln, damit dieses besser funktioniert. Im Wesentlichen sorgt die Schaffung von mehr »gutem Raum« dafür, dass die pranischen Energien frei fließen und zum normalen, gesunden Funktionieren beitragen.
Der Meister der Yoga-Therapie unserer Zeit, T. K. V. Desikachar, hat oft betont, dass 90 Prozent der heilsamen Wirkung des Yoga aus Abfallentsorgung besteht.
Da es sich bei der Ausatmung um Entsorgung von Abfall aus dem Organismus handelt, lässt sich auch ein praktischer Schluss aus diesen Überlegungen ziehen: Wenn man sich um die Ausatmung kümmert, erledigt sich die Einatmung von selbst. Wenn man das Unerwünschte loswird, entsteht Raum für das Benötigte.
Von Geburt an: Atmung und Schwerkraft
Solange sich der Fötus im Bauch befindet, erledigt die Mutter das Atmen. Ihre Lunge versorgt Uterus und Plazenta mit Sauerstoff. Von dort gelangt er in die Nabelschnur, die ungefähr die Hälfte des sauerstoffangereicherten Blutes an die Vena cava inferior liefert, die andere Hälfte in die Leber leitet. Beide Herzkammern sind miteinander verbunden, sodass das Blut nicht in die Lungen gerät, die bis zur Geburt noch inaktiv bleiben. Selbstverständlich unterscheidet sich der fötale Kreislauf des Menschen sehr vom Kreislauf ex utero.
Geboren zu werden heißt, von der Nabelschnur getrennt zu werden – von der Lebensader, die einen neun Monate lang versorgt hat. Plötzlich muss das Neugeborene Aktivität zeigen, um weiterhin zu überleben. Die allererste dieser Aktivitäten ist eine physische und physiologische Unabhängigkeit. Es ist der erste Atemzug, der wichtigste und kräftigste Atemzug unseres ganzen Lebens.
Dieses erste Aufpumpen der Lungen bewirkt enorme Veränderungen im ganzen Kreislaufsystem, das bisher darauf ausgerichtet war, sauerstoffangereichertes Blut von der Plazenta zu empfangen. Der erste Atemzug bewirkt, dass Blut in die Lungen schießt, sich das Herz in rechte und linke Kammer teilt, die zwei Pumpen bilden, und dass sich die speziellen Adern des fötalen Kreislaufs verschließen, zuwachsen und zu Bändern umbilden, die von nun an den Verdauungsorganen Halt geben.
Dieser erste Atemzug muss deshalb so kräftig sein, weil er die anfängliche Oberflächenspannung des bis dahin inaktiven Lungengewebes überwinden muss. Die zur Überwindung dieser Spannung benötigte Kraft ist drei- bis viermal höher als bei einem normalen Atemzug. 2
Eine weitere radikale Erfahrung im Moment der Geburt ist das Gewicht des Körpers im Raum. Im Mutterleib befindet sich das Baby in einer weich gepolsterten, Halt gebenden und mit Flüssigkeit gefüllten Umgebung. Dann erweitert sich plötzlich das gesamte Universum des Kindes – jetzt können sich Kopf und Glieder frei bewegen und das Baby benötigt Halt gegen die Schwerkraft.
Da die Erwachsenen nur zu gern bereit sind, Babys einzupacken und herumzutragen, scheinen Stabilität und Mobilität in dieser frühen
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