You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson (German Edition)
mehr als zwanzig Jahre später auf seiner Ranch, Neverland Valley, bei Santa Ynez in Kalifornien. Er hatte viel Zeit und Geld darauf verwandt, das riesige Grundstück in einen richtigen Freizeitpark zu verwandeln, und die Familie war nun eingeladen, sich die fertige Märchenwelt anzuschauen. Neverland wurde in den Medien stets als verrücktes Produkt einer überbordenden Phantasie beschrieben, das sich stark an Disneyworld orientierte. Teilweise mag das stimmen, aber die Wahrheit liegt wesentlich tiefer, und das erkannte ich sofort, als ich mit eigenen Augen sah, was er hier geschaffen hatte.
Es war eine Reise zurück in meine Kinderzeit: Weiße Weihnachtslichterketten säumten den Bürgersteig und die Pfade, beleuchteten die Bäume, das Dach und die Regenrinnen des im Tudorstil erbauten Hauses. Sie blieben das ganze Jahr über angeschaltet, damit es tatsächlich „jeden Tag Weihnachten“ war. Eine riesige Dampflok mit mehreren Wagen verkehrte zwischen den Läden und dem Kino, und ein Miniaturzug umrundete das ganze Anwesen und den Zoo. Wenn man im Haupthaus an der Tür am lebensgroßen Modell eines Butlers vorbeigekommen war, die breite Treppe nach oben nahm und dann einen langen Flur entlangging, kam man ins Spielzimmer. In diesem Raum, dessen Tür von lebensgroßen Superman- und Darth-Vader-Figuren bewacht wurde, befand sich ein enorm großer Tisch, auf dem eine alte Lionel-Eisenbahnlandschaft aufgebaut war. Zwei oder drei Züge drehten voll beleuchtet ihre Runden durch eine Miniaturwelt aus Hügeln, Tälern, Städten und Wasserfällen. Drinnen wie draußen hatte sich Michael die größten Spielzeugeisenbahnen gegönnt, die man sich vorstellen konnte.
Auf dem Außengelände hatte er eine professionelle Go-Kart-Bahn mit allen Schikanen und engen Kurven konstruieren lassen und ein hübsches Karussell mit prachtvoll ausstaffierten Pferdchen aufgestellt, die sich zur Musik drehten. Es gab einen Süßigkeiten-Laden, in dem die Leckereien nichts kosteten, und einen Weihnachtsbaum, der das ganze Jahr über geschmückt blieb. 2003 sagte Michael, er habe sich die Ranch so eingerichtet, um alles zu haben, was er als Kind nie besaß. Aber er baute sich auch die Sachen nach, die ihm kurzzeitig durchaus viel Spaß gemacht hatten, nun jedoch in einer viel größeren, überdimensionierten Version. Er selbst bezeichnete sich als „Phantasie-Fanatiker“, und Neverland war seine ewige Phantasie.
Neverland brachte uns die verlorenen Kindertage zurück, denn so stufte er seine frühen Jahre ein – als Verlust. Er, das ewige innere Kind, das durch seine Vergangenheit streifte und versuchte, sich irgendwie zukünftig mit seiner Vergangenheit zu versöhnen. Es war dabei nicht die Weigerung, erwachsen zu werden, denn wenn man ihn fragte, dann sagte er, dass er sich niemals wie ein kleiner Junge gefühlt habe. Von Michael war stets erwartet worden, dass er sich auch schon als Kind erwachsen verhielt, und daher verwandelte er sich in ein Kind, als er eigentlich ein Erwachsener hätte sein sollen. Er war eher Benjamin Button als Peter Pan, auch wenn er letzteren Vergleich selbst gern heranzog.
Während ich mich durchaus daran erinnere, dass wir in unserer Kindheit viel lachten, empfand er diese Zeit völlig anders, was höchstwahrscheinlich darauf zurückzuführen war, dass ich vier Jahre älter war als er.
Mit einem Freund und einem unserer Neffen nahm ich mir ein Quad, um die Ranch zu erkunden, die uns mit ihren über tausend Hektar Fläche riesig erschien. Grüne Hügel, mit Eichen bestanden, erstreckten sich bis weit in die Ferne. Eine staubige Schotterstraße führte uns abseits der bebauten Fläche auf ein Plateau, den höchsten Punkt des Geländes, der uns einen Rundumblick auf das ganze Anwesen bot. Meine Augen fingen alles ein – das Haus, den Freizeitpark, den See, das Riesenrad, die Züge, die Bepflanzung –, und Stolz und Ehrfurcht überwältigten mich. Sieh dir an, was du geschaffen hast , sagte ich zu meinem Bruder, erst im Geiste und dann, als ich zurück war, auch direkt.
„Einen Ort völligen Glücks“, erwiderte er.
Die verzerrte Darstellung von Neverland zeigt vor allem, dass Michael in den Medien nach dem äußeren Schein seiner Welt beurteilt wurde, und nach Hörensagen. Stets schien man ein grelles, oberflächliches Bild seiner Person und seiner Ranch zu zeichnen, ohne sich je die Mühe zu machen, nach dem komplexeren „Warum?“ zu fragen. Wie jeder andere Mensch war er durch seine Herkunft geprägt.
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