You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson (German Edition)
deutlich unsere Angst – zuerst. Wenn Joseph wütend wurde, dann reichte ein Blick in sein Gesicht, auch ohne dass er etwas sagte. Er hatte ein Muttermal von der Größe eines Zehn-Cent-Stücks auf der Wange, und ich sehe es noch immer vor meinem geistigen Auge, ganz nahe vor mir: Wenn er richtig in Zorn geriet, dann legte es sich ebenso in Falten wie sein ganzes Gesicht. Gewitterwolken zogen auf, bevor dann der erste Donner grollte und mit den gefürchteten Worten „Ab in dein Zimmer, und da wartest du auf mich!“ der Blitz einschlug, in Form eines über die Haut zuckenden Ledergürtels, dessen Biss einem das Wasser in die Augen trieb. Normalerweise bekamen wir zehn „Whops“, die ich so nannte, weil das dem Geräusch entsprach, das der Gürtel machte, wenn er durch die Luft pfiff. Ich bettelte um Erbarmen, schrie nach Gott, nach Mutter, nach jedem, der mir sonst noch einfiel, aber Joseph brüllte nur noch lauter und erinnerte uns daran, weshalb wir gezüchtigt wurden. Begründete Disziplinierung, so wie er es selbst als Schuljunge hatte erfahren müssen.
Wenn wir bestraft wurden, dann hörte Michael natürlich unsere Schreie, und zur Schlafenszeit sah er die roten Striemen und die Spuren der Gürtelschnalle auf der nackten Haut. Daher fürchtete er sich vor dieser Züchtigung, schon lange, bevor er sie das erste Mal zu spüren bekam. Für ihn war der bloße Gedanke daran, von Joseph bestraft zu werden, traumatisch. So ist das mit übertriebener Angst: Sie sorgt dafür, dass eine Sache in der Vorstellung Ausmaße annimmt, die sie vielleicht in der Realität niemals haben wird.
Seit einiger Zeit hatten wir eine weiße Maus im Haus, und Joseph wollte sie unbedingt erwischen, weil die Mädchen jedes Mal völlig durchdrehten und wild kreischten, wenn sie irgendwo herumwuselte. Joseph war ratlos, wieso wir plötzlich mit einem Mäuseproblem konfrontiert waren. Er hatte eben nicht damit gerechnet, dass sich hier erstmals Michaels große, lebenslange Verbundenheit mit Tieren zeigte.
Michael hatte die Maus, ohne dass jemand von uns etwas davon merkte, zu seinem Haustier erkoren und sie mit kleinen Stückchen Käse und Salat angefüttert. Rückblickend passte alles gut zusammen: Wenn Mutter kreischte und Joseph fluchte, dann wurde Michael verdächtig still und verkrümelte sich. Er war erst drei, wer hätte ihm da irgendwelche Heimlichkeiten unterstellen wollen? Aber es dauerte nicht lange, bis es dann doch herauskam. Eines Tages schlich sich Joseph in die Küche und ertappte Michael auf frischer Tat dabei, wie er auf dem Boden kniete und die Maus hinter dem Kühlschrank fütterte.
Das Haus erzitterte, als Joseph brüllte: „Ab in dein Zimmer, und da wartest du auf mich!“
Doch was Michael nun tat, überraschte uns alle.
Er versuchte zu flüchten.
Michael rannte wie ein verschrecktes Kaninchen durchs ganze Haus. Joseph verfolgte ihn mit dem Gürtel und bekam ihn hinten am Hemd zu fassen, aber mein Bruder war wendig und flink, wand sich blitzesschnell aus den Ärmeln und rannte weiter. Er flitzte ins Elternschlafzimmer, sprang über das Bett und drückte sich in die Ecke, wohl wissend, dass der Gürtel ihn hier nicht erwischen konnte, ohne zuvor an den Wänden abzuprallen.
Noch nie zuvor hatte ich Joseph so wütend gesehen. Er ließ den Gürtel fallen, packte Michael und verprügelte seinen Sohn so sehr, dass der das ganze Haus zusammenschrie.
Ich hasste das eigentümliche Schweigen, das nach solchen Vorkommnissen immer in der Luft hing und nur von Mutters gequältem Gemurmel und den leisen Schluchzern desjenigen von uns unterbrochen wurde, den es gerade erwischt hatte.
Michael machte es sich zusätzlich schwer, weil er von uns allen am ungebärdigsten war. Rebbie erinnert sich, dass er mit eineinhalb Jahren Joseph einmal seine Nuckelflasche an den Kopf warf. Das hätte unserem Vater vielleicht eine Warnung sein sollen, denn mit vier Jahren schleuderte Michael in einem Wutanfall einen Schuh nach ihm – und kassierte natürlich wieder eine deftige Abreibung.
Michael rannte aus Angst vor Schlägen immer davon. Manchmal tauchte er mit einem Satz unter das Bett unserer Eltern, presste sich ganz hinten an die Wand und krallte sich an den Sprungfedern des Bettrahmens fest. Das war eine recht effektive Taktik, denn wenn Joseph eine halbe Stunde lang versucht hatte, ihn dort zu herauszuholen, war er meist entweder zu erschöpft, um weiterzumachen, oder hatte sich beruhigt. Und so kam Michael mit viel mehr durch,
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