You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson (German Edition)
einer Werft. Dabei war Samuel Jackson zunächst allein aufgebrochen und hatte Joseph zu Hause zurückgelassen. Drei Monate später, nachdem viele bittende Briefe zwischen Vater und Sohn hin- und hergegangen waren, fällte Joseph „die allerschwerste Entscheidung“ und ging in den Westen. Noch mehr Briefe folgten, dieses Mal zwischen Joseph und seiner Mutter. Unser Vater war offenbar schon als Kind mit einer großen Überzeugungskraft gesegnet gewesen, denn einige Monate später verließ Chrystal Jackson ihren neuen Freund und kehrte zu dem Mann zurück, von dem sie sich erst kürzlich hatte scheiden lassen.
Das Familienglück hielt ein Jahr, bevor Chrystal wieder nach Osten zog, um ein neues Leben mit einem anderen Mann in Gary, Indiana, anzufangen. Joseph fühlte sich vermutlich wie der Strick bei dem Tauziehen, das zwischen seinen Eltern stattfand. Dabei war gerade er ein Mensch, dem der Zusammenhalt und der Familienverband so unendlich wichtig waren. Ich weiß nicht, wie er das aushielt. Ich weiß nur, dass er sich eines Tages in den Bus setzte und von Oakland nach Gary fuhr. Er fand die Stadt zunächst „klein, dreckig und hässlich“, aber seine Mutter lebte dort, und wenn ich heute zwischen den Zeilen lese, dann glaube ich, dass er sich ein wenig wie eine „Berühmtheit“ fühlte – für die anderen Jugendlichen in seinem Alter kam er nicht aus Arkansas, sondern aus Kalifornien, und mit seinen Geschichten vom Leben an der Westküste war ihm die Aufmerksamkeit der Mädchen von Gary sicher. Und so blieb der sechzehnjährige Joseph mit seiner Mutter in Indiana, aber in Gedanken hielt er daran fest, dass er eines Tages nach Kalifornien zurückkehren würde. „Wir gehen in den Westen. Wartet nur ab, bis ihr gesehen habt, wie es dort ist“, pflegte er zu uns zu sagen, wie ein Entdecker, der seine Reise nur kurz unterbrochen hat, um sein großes Abenteuer zu einem späteren Zeitpunkt wiederaufzunehmen.
Die Jahre harter Arbeit hatten Falten und Furchen in Josephs Gesicht hinterlassen, er hatte buschige Brauen, die den Eindruck vermittelten, als runzele er beständig die Stirn, und nussbraune Augen, die direkt bis auf den Grund der Seele seines Gegenübers sehen konnten. Ein strenger Blick genügte uns Kindern, damit wir zu zittern anfingen. Aber wenn er von Kalifornien sprach, wurden seine Züge weicher. Er erinnerte sich an den „goldenen Sonnenschein“, an die Palmen, an Hollywood und überhaupt daran, dass die Westküste „der beste Ort zum Leben“ sei. Keine Verbrechen, saubere Straßen und zahlreiche Möglichkeiten, um bis ganz nach oben zu kommen. Wenn wir Fernsehserien wie Maverick guckten, dann zeigte er uns die Straßen, die er kannte. Im Laufe der Zeit wurde Los Angeles für uns auf diese Weise zu einem fiktiven Paradies, wie ein entfernter Planet: Wenn Menschen zum Mond zu fliegen vermochten, dann konnten wir vielleicht auch eines Tages nach L.A. reisen. Wenn die Sonne in Indiana unterging, dann sagten wir immer: „Bald geht die Sonne in Kalifornien unter.“ Wir wussten: Irgendwo da draußen gab es einen Ort und ein Leben, die besser waren als unsere aktuelle Wirklichkeit.
Lange bevor Michael zu Welt kam, als Mutter noch mit mir schwanger war, unternahm Joseph erste Schritte, um eines Tages „den Durchbruch zu schaffen“. Gemeinsam mit seinem Bruder Luther und ein paar Freuden gründete er eine Bluesband namens The Falcons, in der er Gitarre spielte. Als ich zur Welt kam, hatten sie schon ein gutes Programm ausgearbeitet und traten auf Partys und in kleinen Clubs im Ort auf, um zusätzlich ein wenig Geld zu verdienen. Wenn er oben in seiner Krankanzel saß, komponierte Joseph Songs, schob die Stahlträger gewissermaßen per Autopilot hin und her und dachte im Singer-Songwriter-Modus über Texte nach.
1954, als ich geboren wurde, schrieb er angeblich einen Song, der „Tutti Frutti“ hieß. Ein Jahr später veröffentlichte Little Richard einen Hit mit demselben Namen. Wir wuchsen mit der Legende auf, dass Little Richard den Song von unserem Vater „geklaut“ habe. Das stimmte natürlich nicht. Was aber zählte, das war, dass ein Schwarzer aus dem Nichts einen Song geschrieben hatte, der die ganze Musik neu definierte – „der Sound der Geburt des Rock’n’Roll“. Es war diese Möglichkeit, die sich tief in unsere Köpfe einbrannte, jedes Mal, wenn diese Geschichte erzählt wurde.
Zwar kann ich mich nicht direkt an Proben der Falcons erinnern – jedenfalls an nichts, was auch
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