Young Sherlock Holmes 1
dass er fast wieder heruntergefallen wäre. Doch zum Glück purzelte er nach vorne in einen Strohhaufen.
Der Fahrer gab während der gesamten Fahrt keine Silbe von sich, und auch Sherlock hatte nichts zu sagen. Stattdessen verbrachte er seine Zeit damit, abwechselnd über den toten Mann, den mysteriösen Reiter und den sonderbaren, jedoch auch faszinierenden Amyus Crowe nachzudenken. Nachdem ihm Holmes Manor und die Umgebung zunächst als Inkarnation tödlicher Langeweile vorgekommen waren, hatten sich diese Orte nun so ziemlich als das Gegenteil erwiesen.
Seine Gedanken wanderten zu der Geschichte, die Matty erzählt hatte. Zu der Leiche, die aus dem Haus in Farnham getragen worden war, und der merkwürdigen Wolke, die er durch das Fenster hatte schweben sehen.
Sherlock hatte die Geschichte seinerzeit einfach abgetan – zumindest den Teil mit der Wolke. Aber jetzt dachte er anders darüber. Was war, wenn Amyus Crowe mit diesen Krankheiten, die durch winzige Lebewesen verursacht und von Mensch zu Mensch übertragen wurden, nun recht hatte? War dann diese Wolke, die er und Matty gesehen hatten, nichts anderes als eine riesige Ansammlung dieser winzigen Krankheitserreger?
Das machte keinen Sinn. Noch nie hatte Sherlock etwas von einer Wolke gehört oder gelesen, die aus derart winzigen Lebewesen bestand. Und bestimmt waren Sherlock und Matty nicht die Einzigen, die ihr zufällig begegnet waren. Es musste noch etwas anderes im Gange sein.
Sherlock merkte erst, dass sie in Farnham angekommen waren, als die Kutsche rumpelnd zum Halten kam. Starr wie eine Statue saß der Kutscher auf dem Kutschbock und wartete, bis Sherlock herunterkletterte. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, setzte er dann gleich wieder die Kutsche in Bewegung, während Sherlock noch seine Taschen nach Kleingeld durchwühlte, da er davon ausgegangen war, den Mann für seine Umstände bezahlen zu müssen.
Sherlock blickte sich um. Er wusste, wo er sich befand: Er stand auf der Hauptstraße, die durch das Stadtzentrum von Farnham führte. Weiter vor ihm erhob sich ein rotes, mit steinernen Zierbögen versehenes Backsteingebäude, das laut Matty als Getreidespeicher diente. Er blickte sich um. Die Marktstadt ging ihrem üblichen emsigen Treiben nach. Menschen überquerten eilig die Straße und bewegten sich zielstrebig auf den Gehwegen fort, während andere vor Schaufenstern oder einer Backstube stehengeblieben waren. Manche hielten ein kleines Schwätzchen miteinander, andere hingegen gingen einfach ihrer Arbeit nach. Einen stärkeren Gegensatz zur dunklen Einsamkeit des Waldes konnte man sich kaum vorstellen.
Er mochte es sich nur einbilden, aber ihm fiel auf, dass sich ungewöhnlich viele kleine Gruppen an Straßenecken und vor den Läden gebildet hatten. Die Leute schienen die Köpfe zusammenzustecken, als würden sie leise miteinander reden, und jeder, der vorbeiging, wurde misstrauisch beäugt. Sprachen sie darüber, dass möglicherweise die Pest in der Stadt ausgebrochen war? Suchten sie in jedem Gesicht, das ihnen begegnete, nach ersten Anzeichen von Beulen oder Fieberrötungen?
Sherlock ging im Kopf schnell die Liste jener Orte durch, an denen Matty eventuell zu finden sein würde. Zu dieser Tageszeit hatten die Marktstände noch eine oder zwei Stunden geöffnet. Von daher war die Chance gering, dass Matty hier herumstrich und darauf spekulierte, weggeworfenes Obst oder Gemüse zu ergattern. Außerdem wusste Sherlock definitiv, dass vor heute Abend auch keine weiteren Züge mehr zu erwarten waren. Er hatte nämlich den Zugfahrplan für den Fall auswendig gelernt, dass er es auf Holmes Manor nicht mehr aushalten würde. Aber vielleicht, so Sherlocks Vermutung, trieb sich Matty vor einer der zahlreichen Kneipen herum, in der Hoffnung, dass einer der betrunkenen Gäste zufällig mal den einen oder anderen Penny fallen ließ.
Am Ende jedoch wurde Sherlock klar, dass er nicht genug Anhaltspunkte besaß, um herauszufinden, wo Matty stecken könnte. Es war ganz so, wie Mycroft manchmal sagte: »Theoretisieren ohne Anhaltspunkte ist ein verhängnisvoller Fehler, Sherlock.« Also streifte er einfach in den Straßen umher, bis er schließlich an die Stelle kam, die Matty ihm gezeigt hatte. Er stand vor dem Haus, in dem der Mann gestorben war. Aus dessen Fenster die Wolke des Todes gekrochen war, um gleich darauf, über Mauer und Dach emporgleitend, wieder zu verschwinden.
Das Gebäude schien verlassen zu sein. Fenster und Türen waren verschlossen
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