Young Sherlock Holmes 1
und an die Eingangstür hatte jemand ein Schild genagelt. Sherlocks Vermutung nach handelte es sich um eine Warnung, dass dort drinnen jemand an einem unbekannten Fieber gestorben war. Er spürte widerstreitende Gefühle in sich aufsteigen. Ein Teil von ihm wollte hineingehen und sich dort umsehen. Aber ein anderer, ein von primitiven Urinstinkten geprägter Teil, empfand nackte Angst und trotz des brandygetränkten Taschentuchs, das immer noch zusammengeknüllt in seiner Tasche steckte, wollte er sich nicht der Gefahr einer Infektion aussetzen.
Plötzlich öffnete sich die Haustür einen Spalt weit, und Sherlock zog sich in den Schatten eines gegenüberliegenden Hauseingangs zurück. Wer mochte sich da drinnen wohl herumtreiben? Nahm jemand das Risiko auf sich, dort sauberzumachen? Oder war dort jemand – ungeachtet der Gefahr – eingezogen beziehungsweise wieder zurückgekehrt? Einen Augenblick lang ging die Tür nicht weiter auf, und Sherlock ahnte mehr, als er es wirklich sah, dass jemand in der Dunkelheit dahinter stand und die Straße beobachtete. Ohne zu wissen, warum er das eigentlich tat, drückte sich Sherlock mit klopfendem Herzen noch tiefer in den Schatten.
Schließlich öffnete sich die Tür gerade so weit, dass ein Mann durch die Lücke hindurchschlüpfen konnte. Er war in verschiedene Grautöne gekleidet und blickte die Straße rauf und runter, bevor er aus dem Hauseingang glitt. In der einen Hand hielt er einen Sack gepackt. Und diese Hand war mit feinem gelbem Puder überzogen.
Das Pulver und das Verhalten des Unbekannten, der offenbar nicht beim Verlassen des Hauses gesehen werden wollte, hatten Sherlocks Neugier geweckt.
Sherlock beobachtete, wie der Mann dem Weg bis zu einer Stelle folgte, wo dieser auf eine größere Straße stieß. Dort bog er nach links ab. Sherlock wartete einige Augenblicke, ehe er ihm folgte. Er hatte keine Ahnung, was da vor sich ging, aber er war entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Etwas an dem Mann kam ihm merkwürdig bekannt vor. Irgendwo hatte Sherlock ihn schon einmal gesehen. Er hatte ein schmales, wieselartiges Gesicht und auffällige Zähne, die sich vom vielen Tabak gelb verfärbt hatten. Und dann fiel es Sherlock wieder ein: Er hatte das Wieselgesicht am Bahnhof gesehen, als er zusammen mit Matty dort gewesen war. Der Mann hatte Eiskisten auf einen Karren geladen.
Sherlock folgte dem Mann quer durch die Stadt von einem Ende Farnhams zum anderen. Sherlock hielt sich den ganzen Weg über hinter ihm. Er duckte sich in Hauseingänge oder verbarg sich hinter anderen Passanten, wenn er das Gefühl hatte, dass sich der Mann gleich umdrehen würde. Schließlich bog er in eine Seitenstraße ein, die Sherlock wiedererkannte. Es war diejenige, in der er bereits früher am Tag mit Matty gewesen war. Dort, wo sie fast die Kutsche überfahren hätte, in der der seltsame Mann mit den rosafarbenen Augen gesessen hatte.
Der Mann schlich an einer hohen Backsteinmauer entlang, bis er das hölzerne Tor erreichte, aus der die Kutsche gekommen war. Er klopfte an das Tor und benutzte dabei einen ganz bestimmten, aber komplizierten Rhythmus, den Sherlock sich trotz aller Mühe nicht merken konnte. Die Torflügel öffneten sich mit lautem Knarren und der Mann schlüpfte hinein. Ehe Sherlock eine Chance hatte, einen Blick hineinzuwerfen, schloss sich das Tor auch schon wieder.
Frustriert blickte er sich um.
Zu gerne hätte er einen Blick über die Mauer geworfen, um zu sehen, was sich dort drinnen befand. Aber wie es aussah, gab es dazu keine Möglichkeit. Irgendwie hatte alles miteinander zu tun: die beiden Todesfälle, die sich bewegenden, geheimnisvollen Wolken, das gelbe Puder … Aber er konnte nicht erkennen, wie die einzelnen Glieder der Kette zusammenhingen. Die Antworten darauf lagen vielleicht nur ein paar Meter entfernt hinter dieser Mauer, aber wie die Dinge im Moment lagen, hätten sie auch genauso gut in China auf ihn warten können.
Die Sonne stand tief und rot am Himmel. Nicht mehr lange, dann müsste Sherlock wieder zurück in Holmes Manor sein, um sich rechtzeitig für das Abendessen fertig zu machen. Er hatte nicht viel Zeit. Verzweifelt blickte er sich um. Hinter ihm, dort, wo die Mauer einen Knick um die Ecke machte, hatten sich große Teile des Putzes gelöst. Wahrscheinlich waren dort im Laufe der Jahre immer wieder Kutschen und Karren im Vorbeifahren gegen die Mauer gestoßen und Wind und Wetter hatten dann ihr Übriges getan. Die Rillen
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