Young Sherlock Holmes 3
ich, dass wir inkognito reisen. Getarnt, wenn du es lieber so ausdrücken möchtest. Ein relativ hochrangiger Angehöriger des Außenministeriums kann nicht einfach unangemeldet nach Russland hereinspazieren. Jedenfalls nicht, ohne einen internationalen Zwischenfall zu provozieren. Nein, wir müssen Decknamen benutzen und mit Tarngeschichten arbeiten. Wir müssen Teil eines großen Ganzen sein, eines größeren Gesamtbildes, so dass keiner uns allzu große Aufmerksamkeit schenkt.«
»Und Sie haben doch garantiert auch schon eine konkrete Vorstellung, wie dieses größere Gesamtbild aussehen soll«, vermutete Crowe.
»In der Tat. Ich habe mir den Plan ausgedacht, während ich in der Kutsche vom Diogenes Club hierhergefahren bin.«
»Du hast eine Droschke genommen?«, fragte Sherlock fassungslos. »Der Club ist nicht einmal zehn Minuten zu Fuß entfernt! Und mit der Droschke sind es nur zwei!«
»Ganz genau. Gerade Zeit genug für eine kleine kreative Denkeinheit. Wäre ich zu Fuß gegangen, wäre ich so beschäftigt damit gewesen, Fußgängern, Pferdefuhrwerken und was sonst nicht alles auszuweichen, dass ich zum Nachdenken überhaupt keine Zeit gehabt hätte.«
»Wie also sieht der Plan aus?«, fragte Crowe.
Mycroft spießte ein Wurststückchen mit der Gabel auf. »Vor ein paar Wochen wurde ich gebeten, einem britischen Theaterensemble die Erlaubnis zu erteilen, nach Moskau zu reisen, um dort vor bedeutenden russischen Familien eine Reihe mit Stücken berühmter britischer Dichter wie Shakespeare, Marlowe, Ben Jonson und dergleichen aufzuführen. Ich erteilte ihnen meine Genehmigung, da ihr Besuch von der russischen Botschaft angefragt wurde und weil er die künstlerischen Beziehungen zwischen unseren Ländern verbessert – oder wenigstens wird das der Fall sein, wenn die Aufführungen tatsächlich so gut sind, wie es die Berichte erwarten lassen. Letzte Woche habe ich dann erfahren, dass die Reise womöglich abgesagt werden muss, da der Generalmanager des Ensembles an Herzbeschwerden erkrankt und ins Hospital eingewiesen worden ist. Darüber hinaus wurde der erste Geiger des Theaterorchesters wegen Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet. Nach meinem Dafürhalten können die Aufgaben eines Generalmanagers nicht so schwer sein, bestehen sie doch hauptsächlich darin, sicherzustellen, dass jeder da erscheint, wo er hingehört, und dass die Rechnungen pünktlich bezahlt werden.«
»Und den Geigenspieler?«, fragte Crowe. »Wie wollen Sie den auftreiben?«
»Einer meiner Agenten ist ein passabler Violinist«, antwortete Mycroft und schien sich auf einmal intensiv für seinen Teller zu interessieren. »Ich werde ihn engagieren, um uns zu unterstützen.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Sherlock.
»Du kommst als Mädchen für alles und Bühnenarbeiter mit. Wie ich gehört habe, kann man auf Tournee nie genug Leute hinter der Bühne haben.«
»Aber …« Sherlocks Gedanken überschlugen sich förmlich. »Aber wann? Und wie?«
Mycroft ließ das Wurststückchen in seinem Mund verschwinden und kaute. »Was das ›Wann‹ anbelangt«, sagte er schließlich, »so würde ich vorschlagen, dass wir aufbrechen, sobald alle Vereinbarungen mit der Theatergesellschaft unter Dach und Fach sind. Meiner Meinung nach werden sie dem Außenministerium sehr dankbar sein, da es sich bereit erklärt hat, sie bei der Tournee sogar so weit zu unterstützen, dass es ihnen Ersatz für die ausgefallenen Leute besorgt. Ihre Reisevorkehrungen sind bereits getroffen. Wie ich mich erinnere, wollten sie eigentlich in den nächsten Tagen aufbrechen und waren schon kurz davor, ihren Gastgebern einen Brief zu schicken, um das Ganze abzusagen. Hoffen wir, dass sie ihn noch nicht abgeschickt haben. Andernfalls muss ich mir eine andere Strategie überlegen. Und was das ›Wie‹ betrifft, so sieht der Plan vor, dass wir mit dem Schiff nach Frankreich übersetzen und von dort per Zug quer über den Kontinent nach Moskau fahren. Meiner Schätzung nach wird die Reise vier oder fünf Tage dauern.« Er langte nach einer weiteren Scheibe Toast und machte sich daran, sie mit Butter zu bestreichen. »Ich werde unsere Tante und unseren Onkel informieren, dass wir für ein paar Wochen eine Reise durch Europa machen. Ich bin sicher, dass sie Verständnis dafür haben. Schließlich erweitern Reisen den Horizont. Ich werde jetzt aufbrechen und die nötigen Vereinbarungen treffen, während du, Sherlock, wie ich vorschlage, dich zur
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