Young Sherlock Holmes 3
einer etwas ungewöhnlichen Position angebracht zu sein. Aber da war etwas an dem Instrument, das zu ihm sprach. Ihn rief. Er wog es in der rechten Hand, die Finger am Ansatz des Halses, das Gewicht auf dem Ballen der Handfläche lagernd. Es schien eine bessere Balance als Rufus Stones Instrument zu haben, auf dem er auf dem Weg nach Amerika an Bord der
SS Scotia
das Violinenspiel gelernt hatte. Er ließ den geschwungenen Körper der Violine auf seinem Unterarm ruhen und zupfte an den Saiten. Lang anhaltende, getragene Töne erfüllten den Laden. Es klang schrecklich verstimmt. Aber dennoch war da etwas im Ton, eine Vielschichtigkeit, die ihn fesselte. Auch wenn es keineswegs ein reiner Klang war, so war er doch warm und ausdrucksvoll. Er ließ die Finger über die Kante zwischen Decke und Zarge gleiten. Es fühlte sich an wie Samt.
»Du hast ein gutes Auge«, ertönte da plötzlich eine staubtrockene Stimme aus den Tiefen des Ladens.
Sherlock wandte sich um. Doch eine Regalwand versperrte ihm die Sicht. Er ging darum herum und erblickte einen Mann, der so alt und gebrechlich wirkte, dass ein starker Wind ihn wohl ohne weiteres weggeweht hätte. Er saß hinter einem Schreibtisch, auf dem turmhohe Stapel von Büchern und anderen Dingen miteinander um Platz rangen. Er trug ein schwarzes Käppchen und musterte Sherlock durch ein Paar Brillengläser, die auf seinem Nasenrücken steckten und durch eine Halskette vor dem Herunterfallen bewahrt wurden.
»Wie bitte?«
Der Mann bewegte sich aus seinem im Schatten liegenden Schlupfwinkel hinaus und trat in einen von schwebenden Staubteilchen durchwirbelten Strahl aus Sonnenlicht. »Diese Violine da habe ich aus Krakau mitgebracht, vor vielen Jahren. Mein Vater hat sie beim Kartenspielen gewonnen, kannst du dir das vorstellen? Sie ist mit uns durch fast ganz Europa gereist, und jetzt muss ich sie verkaufen, damit ich mir Essen und Brennholz leisten kann. Und trotzdem möchte ich sie eigentlich nicht hergeben.«
»Es ist ein schönes Instrument.«
»Das ist es, genauso schön wie meine Frau. Und es klingt auch traumhaft schön, wie mir jedenfalls Leute erzählt haben, die was davon verstehen. Ich selbst spiele Piano und manchmal Akkordeon. Aber nur, wenn ich zu viel getrunken habe.«
Sherlock blickte in den Violinenkasten. »Ist auch ein Bogen dabei?«
»Für dich habe ich einen Bogen«, sagte der Mann und begann sogleich, das Chaos auf seinem Schreibtisch zu durchwühlen und eifrig Bücher hin und her zu schieben. »Einige sagen ja, dass der Bogen genauso wichtig ist wie das Instrument. Was mich anbelangt, so bin ich da nicht so sicher. Das Instrument ist ein Kunstwerk, doch der Bogen besteht eigentlich nur aus Rosshaar. Vielleicht kommt es ja auf die Pferderasse an, keine Ahnung. Ah!«
Aus irgendeinem verborgenen Winkel hatte er einen Bogen zutage gefördert. »So, dann leg los. Versuchs mal!«, forderte er Sherlock auf und reichte ihm den Bogen.
Sherlock dachte an die Unterrichtsstunden mit Rufus Stone. Seit er wieder aus Amerika zurück war, hatte er nicht mehr geübt, da er keine Violine besaß. Aber er hatte die monotonen Tonleiterübungen und die tröstlich beruhigende Wirkung klar strukturierter Musik auf seinen ewig aufgewühlten Geist vermisst.
Rasch machte er sich ans Stimmen. Er zupfte wiederholt an den Saiten herum und drehte an den Wirbeln am Halsende des Instruments, bis sich die Töne korrekt anhörten. Dann hob er die Violine an die Schulter und schmiegte sein Kinn dagegen. Alles fühlte sich vollkommen natürlich an. Es war, als ob sie einfach dorthin gehörte.
Er führte den Bogen über die Saiten und spielte nacheinander ein paar langgezogene Töne: G, D, A, E. Sie klangen wie Himmelsstimmen. Anschließend probierte er ein paar Tonleitern und war überrascht, wie schnell seine Finger sich daran zu erinnern schienen, was sie zu tun hatten.
Als er die Violine absetzte, nahm er zu seiner Überraschung Tränen in den Augen des alten Mannes wahr.
»Es ist so lange her, dass sie gespielt wurde«, sagte er. »Ich hatte schon befürchtet, dass die vielen Jahre und die langen Reisen ihren Klang getrübt haben. Aber sie klingt schöner als je zuvor – was man von meiner liebreizenden Frau nicht behaupten kann. Die singt wie eine Kuh.«
»Wie kommt es«, fragte Sherlock, »dass verschiedene Violinen … na ja eben so verschieden klingen? Ich meine, eine Holzkarre ist eine Holzkarre. Jede hat vier Räder und bewegt sich, wenn sie gezogen wird. Es ist
Weitere Kostenlose Bücher