Zähl nicht die Stunden
im Gespräch mit seinem Mandanten. »Oh,
Entschuldigung!« Sie nieste ein zweites Mal.
Eine Frau in der Reihe vor ihr drehte sich nach ihr um, weiche braune Augen mit hellen Glanzlichtern. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« Sie hatte eine tiefe, etwas raue Stimme, die man eher einer älteren Frau zugeschrieben hätte, und das runde Gesicht war von krausen roten Locken umgeben wie von einer Wolke. Irgendwie passt da nichts richtig zusammen, dachte Mattie zerstreut und versicherte der Frau , dass ihr nichts fehlte.
Im Saal wurde es einen Moment unruhig, als der Gerichtsdiener die
Anwesenden aufforderte , sich zu erheben, und die Richterin, eine gut aussehende Schwarze mit grau gesprenkeltem dunklen Haar ihren Platz
am Kopf des Saals einnahm. Erst da bemerkte Mattie die
Geschworenen , sieben Männer und fünf Frauen , dazu zwei Männer, die als Stellvertreter ausgewählt worden waren. Die Mehrzahl der
Geschworenen war mittleren Alters, einige allerdings schienen kaum
dem Teenageralter entwachsen , und einer , ein Mann, war sicher bald siebzig. Sechs der vierzehn Personen waren Weiße, vier Schwarze , drei waren Hispanos und einer war Asiate. Ihre Gesichter spiegelten
Interesse, Ernsthaftigkeit und Erschöpfung in unterschiedlichen
Abstufungen. Der Prozess dauerte nun schon beinahe drei Wochen,
Anklage und Verteidigung hatten ihre Argumente vorgetragen, die
Geschworenen hatten ohne Zweifel genug gehört. Jetzt wollten sie
zurück an ihre Arbeit, zurück zu ihren Familien, das Leben wieder
aufnehmen, das sie für die Dauer des Prozesses auf Eis gelegt hatten. Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen und den Weg fortzusetzen.
Das gilt auch für mich, dachte Mattie und beugte sich ein wenig vor, als die Richterin die Anklage aufforderte, in der Verhandlung
fortzufahren. Auch für mich ist es an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen und den Weg fortzusetzen.
Light my fire. Light my fire. Light my fire.
Augenblicklich sprang ein Vertreter der Staatsanwaltschaft auf,
knöpfte sein graues Jackett zu, genau wie es die Anwälte in den
Fernsehserien immer taten, und trat vor die Geschworenenbank. Er war ein groß gewachsener Mann von vielleicht vierzig Jahren , mit einem schmalen Gesicht und einer langen Nase , die vorn an der Spitze einen Knick nach unten hatte. Ein Rascheln ging durch die Reihen, als die Zuschauer alle gleichzeitig auf ihren Sitzen nach vorn rutschten und die Hälse reckten. In das erwartungsvolle Schweigen hinein sagte der
Staatsanwalt »Meine Damen und Herren Geschworenen« und nahm mit
jedem Einzelnen von ihnen Blickkontakt auf , ehe er lächelnd anfügte ,
»einen schönen guten Morgen.«
Die Geschworenen erwiderten pflichtschuldig das Lächeln, und eine
der Frauen gähnte unterdrückt.
»Ich möchte Ihnen für Ihre Geduld während der letzten Wochen
danken«, fuhr der Staatsanwalt fort. Er schluckte, und sein großer
Adamsapfel sprang über dem blassblauen Kragen seines Hemds in die
Höhe. »Es ist meine Aufgabe, Ihnen noch einmal die reinen Fakten
dieses Falls darzulegen.«
Ein Hustenanfall packte Mattie plötzlich, so heftig, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb.
»Fehlt Ihnen wirklich nichts?«, fragte die Blondine zu ihrer Linken und bot ihr ein Papiertaschentuch an, während die Blondine auf der
rechten Seite genervt die Augen verdrehte. Du bist diejenige, stimmt’s?, dachte Mattie, sich mit dem Papiertuch die Augen wischend. Du bist
diejenige, die mit meinem Mann schläft.
»Als Douglas Bryant am Abend des vierundzwanzigsten Februar von
einem Kneipenbesuch heimkehrte, bei dem er mit Freunden ausgiebig
gezecht hatte«, begann der Staatsanwalt, »wurde er von seiner Mutter, Constance Fisher, empfangen und zur Rede gestellt. Es kam zu einer
heftigen Auseinandersetzung. Douglas Bryant stürmte aus dem Haus. Er kehrte in die Kneipe zurück und trank dort weiter. Um zwei Uhr
morgens kam er schließlich nach Hause. Seine Mutter war zu dieser Zeit bereits zu Bett gegangen. Er ging in die Küche, nahm aus einer
Schublade ein langes, scharfes Messer, begab sich in das Schlafzimmer seiner Mutter und stieß dieser kaltblütig das Messer in den Leib. Ich glaube, niemand kann sich die Todesangst vorstellen, die Constance
Fisher erfasste, als ihr bewusst wurde, wie ihr geschah, und sie tapfer versuchte, die wiederholten Angriffe ihres Sohnes abzuwehren.
Insgesamt hat Douglas Bryant seiner Mutter vierzehn Messerstiche
beigebracht. Er hat ihr mit
Weitere Kostenlose Bücher