Zombie-Ballade
Der Wind war kalt. Am Himmel trieben graue Schneewolken wie lauernde Ungeheuer. Es sah so aus, als wollten sie sich jeden Moment auf die Erde stürzen, um die Häuser, Straßen, Autos und Menschen unter sich zu begraben.
Der Wind drang in jede Spalte und Ritze. Zahlreiche Menschen schützten sich mit dicken Schals, die sie mehrmals um den Hals und um die Mundpartie gewickelt hatten. Die Verkäufer von Fellmützen hatten Hochkonjunktur.
Nicht einmal gegen Mittag, als sich die Sonne am Himmel zeigte, taute das Eis. Die Autofahrer verhielten sich vorbildlich, denn an vielen Stellen schimmerten Eiskristalle auf dem Asphalt.
Auch der Rolls fuhr langsam. Der Chauffeur kannte den Weg, denn er brachte seine Chefin häufig zum Friedhof, wo sie sich an den Gräbern ihren Erinnerungen hingab. Friedhöfe waren für sie das Salz in der Suppe des Lebens.
Der Rolls glitt lautlos dahin. Wenn sein silberfarbener Metalliclack vom Licht der kalten Wintersonne getroffen wurde, strahlte er explosionsartig auf. Das störte aber hinter den getönten Scheiben niemanden. Die Frau im Fond hatte sich schräg in die Polster gelegt. Das rote Leder war weich wie ein Katzenfell.
Der Wagen war mit allen Schikanen ausgerüstet: Telefon, Fernseher, Stereo-Anlage und der obligatorischen Bordbar. In diesem Kühlfach standen immer ein paar Flaschen Champagner, das Lieblingsgetränk der Frau.
Andere sagten Puffbrause dazu. Sie störte das nicht. Besonders auf langweiligen Fahrten wie dieser nippte sie gern an dem trockenen Edelgesöff.
Luxus, wohin man schaute. Und als Luxus-Frau sah sich auch Mary Ann Baxter. Sie gehörte zu den oberen Fünfhundert der Londoner Gesellschaft, ohne selbst von Adel zu sein. Aber sie hatte Geld, zudem besaß sie einen außergewöhnlichen Beruf und gab Feste, die bei der Schickeria sehr beliebt waren. Wer von Mary Ann Baxter eingeladen wurde, der gehörte dazu, der hatte es geschafft, der war in. Geld hatte sie, die dreifache Witwe, aber sie war auch dabei, es zu vermehren, denn ihr gehörte die bekannteste Londoner Tanzschule. MAB Dancing!
Mehr brauchte man nicht zu sagen, jeder Londoner kannte diese große Schau. Wer Kinder und genügend Geld hatte, der schickte seine Sprösslinge zu Mary Ann Baxter in die Tanzschule. Aber auch die älteren kamen gern, um ihre Tanzkenntnisse aufzufrischen, zudem gehörte es in gewissen Kreisen einfach dazu, Mary zu kennen. Manchmal las sich ihre Schülerliste wie das berühmte Buch »Who's who?«
So sehr sie den Luxus liebte, so sehr hielt sie auch auf ihr Äußeres. Man konnte sie als eine attraktive Frau bezeichnen. Sie war 40 Jahre alt, hatte schwarzbraunes Haar und sah bedeutend jünger aus. Irgend jemand hatte sie einmal mit der berühmten Filmschauspielerin Greta Garbo verglichen, denn auch Mary versteckte sich oft hinter einer dunklen Brille.
Sie liebte Schmuck, teure Kleider und Pelze. Der Mantel, den sie mitgenommen hatte, lag wie ein ausgebreiteter Leopard hinter ihr. Dass diese seltenen Tiere ihretwegen hatten ihr Leben lassen, müssen, darüber dachte sie nicht nach.
Luxus musste sein, egal auf wessen Kosten.
Sie hatte das Glas geleert und wollte sich gerade einschenken, als der Wagen in eine Kurve fuhr. Fliehkräfte wirkten, und der kostbare Champagner schwappte über den Rand.
Mary Ann Baxter verzog das Gesicht. Sie hatte volle Lippen, einen Mund, der zum Küssen einlud. Im Moment wirkte er allerdings wie eine offene Wunde. »Kannst du nicht Acht geben?« zischte sie. Über ihre Hand rann der Champagner auf die Beine und das Sitzleder. Mit einem langen Schluck spülte sie den Ärger runter.
Mary Ann Baxter schaute aus dem Fenster. Bis sie den Friedhof erreichten, blieb ihr noch Zeit, eine Zigarette zu rauchen. Ein schneller Wagen überholte sie, als Mary Ann Baxter die goldene Zigarettenspitze aus der Handtasche kramte. Der Fahrer versuchte, durch die getönten Scheiben in den Rolls zu schauen, schaffte es aber nicht.
Wenig später passierten sie graue Häuserfronten. Auf den Dächern schimmerte der Rauhreif. Deshalb sahen sie aus wie matte Spiegel, über die der feine Qualm aus den Schornsteinen wehte.
Die Frau schüttelte sich, als ihre Blicke über die Fronten glitten. Sie dachte an ihre eigene Jugend. Die ersten Jahre nach dem Krieg hatte sie in einem solchen Haus verbracht und die engen Wohnungen hassen gelernt. Hier lebten Menschen ohne Freiraum, die sich gegenseitig in die Töpfe guckten.
Die Zeiten lagen zum Glück hinter ihr. Sie hatte diese Jahre
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