Zähl nicht die Stunden
Geschworenen zu , als erbäte er ihre Erlaubnis.
Mattie bemerkte, dass eine der Frauen tatsächlich nickte.
»Sehen wir uns also zunächst einmal die treu sorgende Mutter und
loyale Freundin Constance Fisher näher an. Ich halte weiß Gott nichts davon, dem Opfer Schuld zu geben«, sagte Jake, und Mattie lachte
lautlos vor sich hin, da sie wusste, dass er gleich genau das tun würde.
»Ich denke, Constance Fisher war wirklich eine treu sorgende Mutter und loyale Freundin.«
Aber? Mattie wartete.
»Aber ich weiß auch, dass sie eine frustrierte und verbitterte Frau war, die ihren Sohn beinahe an jedem Tag seines Lebens mit Worten
misshandelte und häufig auch vor körperlicher Gewaltanwendung nicht
zurückscheute.« Jake schwieg, um seine Worte wirken zu lassen.
»Keinesfalls will ich damit nun sagen. Douglas Bryant sei ein leicht erziehbares Kind gewesen. Das war er nicht. Vieles , was die Anklage über ihn gesagt hat , trifft zu , und diejenigen unter uns, die selbst Kinder haben«, womit er sich auf subtile Art zu den Geschworenen gesellte ,
»werden sich nur zu gut vorstellen können, wie frustriert diese Frau war, die sich unermüdlich bemühte, mit ihrem Sohn zurechtzukommen, der
ihr nicht gehorchte; der ihr die Schuld daran gab, dass sein Vater die Familie verlassen hatte, als er selbst noch ein kleiner Junge gewesen war; der am Scheitern ihrer zweiten Ehe mit Gene Fisher wesentlichen Anteil hatte; der sich weigerte, ihr die Liebe und die Achtung
entgegenzubringen , die sie ihrer Meinung nach verdiente. Aber halten wir einen Moment inne« , sagte Jake und tat eben dies , während alle im Saal atemlos auf seine nächsten Worte warteten.
Wie oft hat er eben diese Stelle geprobt? , fragte sich Mattie, die sich bewusst wurde, dass sie genau wie alle anderen den Atem anhielt. Wie viele Sekunden genau hatte er für diese Pause vorgesehen?
»Halten wir inne und betrachten wir die Quelle all dieser Wut«, fuhr Jake nach vollen fünf Sekunden fort und hatte seine Zuhörer
augenblicklich wieder in der Hand. »Kleine Jungen werden nicht böse geboren. Kein kleiner Junge kommt mit Hass auf seine Mutter zur Welt.«
Unwillkürlich drückte Mattie die Hand auf den Mund. Deshalb also
hat er diesen Fall übernommen, dachte sie. Und deshalb wird er diesen Prozess auch gewinnen.
Es war eine persönliche Angelegenheit.
Er selbst hatte einmal zu ihr gesagt, die Arbeit eines Anwalts
reflektiere seine eigene Persönlichkeit. Hieß das also in Weiterführung dieser Theorie , dass der Gerichtssaal das juristische Pendant zur Couch des Psychiaters war?
Mattie hörte aufmerksam zu, während ihr Mann den Horror der
beinahe täglichen Misshandlungen schilderte, die Douglas Bryant von seiner Mutter widerfahren waren: Als er noch ein Kind gewesen war,
hatte sie ihm, um ihn zu bestrafen, den Mund mit Seife ausgewaschen; sie hatte ihn ständig als dumm und nichtsnutzig beschimpft; sie hatte ihn immer wieder mit solcher Gewalt geschlagen , dass er Blutergüsse und gelegentlich Knochenbrüche davongetragen hatte – was wesentlich dazu führte, dass Douglas Bryant selbst zuschlug, als er die Misshandlungen nicht mehr ertragen konnte. »Ein Fall wie aus dem Lehrbuch: Das
Syndrom des misshandelten Kindes, das selbst zum Misshandelnden
wird«, sagte Jake, sich auf das Zeugnis mehrerer Gutachter beziehend, mit großem Nachdruck. War es bei dir auch so? , fragte Mattie im Stillen ihren Mann. Aber sie wusste schon , dass sie auf diese Frage wahrscheinlich nie eine Antwort bekommen würde. Zu Beginn ihrer
Beziehung hatte Jake verschiedentlich Andeutungen über eine schwierige Kindheit fallen lassen , die bei Mattie, die selbst eine unglückliche Kindheit durchgemacht hatte, sogleich ein Echo auslösten. Aber je
häufiger sie sich gesehen hatten, desto zurückhaltender war Jake
geworden, und wenn sie versucht hatte, ihn aus der Reserve zu locken, hatte er sich ganz verschlossen und manchmal tagelang hinter einer
Mauer verschanzt, bis sie schließlich gelernt hatte, keine Fragen mehr über seine Familie zu stellen. Wir haben so vieles gemeinsam, dachte sie jetzt wie früher so oft in den Momenten drückenden Schweigens. Wir
haben beide unter unseren verrückten Müttern, unseren abwesenden
Vätern und dem Mangel an Wärme und Geborgenheit in unseren
Familien gelitten.
Mattie, die ohne Geschwister aufgewachsen war, hatte ihre Kindheit
mit den zahllosen Hunden ihrer Mutter teilen müssen. Nie waren es
weniger als sechs
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